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Wo bitte geht's nach Domodossola

Titel: Wo bitte geht's nach Domodossola
Autoren: Bill Bryson
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Kurzwarenabteilung im Erdgeschoß. Dort ging es zu wie bei einer Massenszene in einem Godzilla-Film, nachdem die Nachricht die Runde gemacht hat, daß das Monster auf dem Weg in die Stadt ist. Anfangs dachte ich, dort gäbe es nur Knöpfe, Uhrenarmbänder und Stoff, doch dann bemerkte ich, daß sich alles auf eine frisch eingetroffene Lieferung von Weckern stürzte. Es waren ganz primitive Plastikwecker, aber die Leute hätten alles dafür getan, um einen zu ergattern. Die Abteilung wurde von zwei unsympathischen Frauen geleitet, denen ich nie im Leben wieder begegnen möchte. Ich beobachtete, wie sie einen schüchternen jungen Mann, den ich für einen Nordvietnamesen hielt, einfach ignorierten. Er hatte endlich die Kasse erreicht und hielt ihnen flehend ein Bündel Geldscheine hin, aber sie beachteten ihn nicht, sondern bedienten die Leute hinter ihm. Schließlich schob eine der Verkäuferinnen sein Geld beiseite und sagte ihm, er solle verschwinden. Ich habe keine Ahnung, warum. Der Mann sah aus, als hätte er heulen können. Und mir ging es nicht viel anders. Er nahm sein Geld und verschwand in der Menge. Obwohl es so wenig zu kaufen gab, waren die Leute erstaunlich elegant gekleidet. Vor zwanzig Jahren sahen sie aus, als hätte der Direktor einer russischen Traktorfabrik ihre Kleidung entworfen. Ständig wurden Katz und ich von Leuten angesprochen, die uns unsere Jeans abkaufen wollten. Ein junger Typ hatte es so wild entschlossen auf unsere Levi’s abgesehen, daß er Anstalten machte, sich auf offener Straße die Hose auszuziehen, und uns aufforderte, es ihm gleichzutun, damit der Handel zustande käme. Katz und ich versuchten, ihm klar zu machen, daß wir an seiner Hose nicht interessiert seien, und fragten ihn, ob er nicht etwas anderes zu bieten hätte, eine jüngere Schwester vielleicht oder einen kyrillischen Porno. Da er jedoch nichts zu besitzen schien, das sich zu tauschen lohnte, ließen wir ihn mit gebrochenem Herzen und offenem Hosenschlitz an einer Straßenecke stehen. Inzwischen hatte sich einiges geändert. Die Leute waren so schick gekleidet wie überall in Europa – eher noch ein wenig schicker, denn sie widmeten sich ihrer Garderobe mit Stolz und äußerster Sorgfalt. Und wie schön die Frauen waren! Alle hatten sie schwarzes Haar, schokoladenbraune Augen und wunderbar weiße Zähne. Es gibt keinen Zweifel – in Sofia leben die schönsten Frauen Europas. Fast eine Woche bin ich durch die Straßen der Stadt gelaufen. In Sofia steht man an jeder Ecke vor einem Monument mit einem niederschmetternd sozialistischen Namen – dem Stadion der Volksarmee, dem Denkmal für den antifaschistischen Kämpfer oder dem Nationalpalast der Kultur –, aber die meisten dieser Stätten sind umgeben von hübschen Parks mit langen Kastanienalleen, mit Bänken, Schaukeln und manchmal sogar mit einem kleinen See oder mit Blick auf die grünen, von Dunst umhüllten Berge jenseits der Stadt. Ich habe die Sehenswürdigkeiten besichtigt. Ich war im alten Königspalast am Place 9 Septemvri, der heute die Nationalgalerie beherbergt und in dem mir klar wurde, warum ich keinen einzigen bulgarischen Künstler kannte. Danach habe ich mir das Grab von Georgi Dimitrow angesehen, dem Nationalhelden – zumindest war er das, bis der Eiserne Vorhang fiel. Nun waren sich die Bulgaren da wohl nicht mehr so sicher. Graffiti verunzierten die Grabstätte, was noch vor wenigen Monaten undenkbar gewesen wäre, möchte ich wetten. Außerdem konnte man das Mausoleum nicht mehr betreten, um sich den Leichnam anzusehen, der in der bevorzugten Art und Weise der Kommunisten unter Glas aufgebahrt lag. Als Katz und ich 1973 davor standen, hatte sich Katz über den Glaskasten gebeugt, demonstrativ daran geschnuppert und mit etwas zu lauter Stimme gesagt: »Findest du nicht auch, daß es hier ziemlich streng riecht?«, woraufhin wir beinahe verhaftet worden wären. Dimitrow war praktisch ein Gott.
    Nun, da der Kommunismus ins Wanken geraten ist, wollten ihn die Leute nicht mal mehr sehen. Auch das Nationalmuseum für Geschichte und die Alexander Newski Kathedrale und das Nationalmuseum für Archäologie und ein, zwei andere Sehenswürdigkeiten habe ich besichtigt, aber meistens bin ich nur durch die Straßen gelaufen und habe darauf gewartet, daß es Abend wurde.
    Am Abend zeigte sich Sofia von einer unbeschwerteren Seite. Sobald die Läden geschlossen waren, lösten sich die Warteschlangen auf, und die Leute bummelten über die Straßen und
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