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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du
Autoren: Unbekannter Autor
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habe vorhin vergessen, dir etwas sehr Wichtiges zu sagen: Ich glaube, du wirst mir ganz schrecklich fehlen.
    Susan
    15. Oktober 1974 Susan,
    jetzt sind schon drei Wochen seit deiner Abreise vergangen, und dein erster Brief ist immer noch nicht eingetroffen; ich stelle mir vor, dass er irgendwo zwischen dir und mir unterwegs ist. Meine Eltern fragen ständig, ob ich etwas von dir gehört habe; wenn dein Brief nicht bald kommt, muss ich etwas erfinden ...
    15. Oktober 1974 Philip,
    die Ankunft war chaotisch. Wir saßen vier Tage in Miami fest, weil wir auf zwei Container mit Lebensmitteln und auf die Wiedereröffnung des Flughafens La Ceiba warten mussten, wo ein Zwischenstopp vorgesehen war. Ich hatte die Gelegenheit nutzen wollen, um die Stadt zu besichtigen, aber da hatte ich mich getäuscht. Zusammen mit den anderen Mitgliedern meiner Gruppe wurde ich in einem Hangar untergebracht. Drei Mahlzeiten am Tag, zweimal Gelegenheit zum Duschen und ein Feldbett, Intensivkurse in Spanisch und erster Hilfe wie beim Militär, nur ohne Feldwebel. Die DC3 hat uns schließlich bis nach Tegucigalpa gebracht, von da ging es mit einem Armeehubschrauber weiter nach Ramon Villesla Morales, dem kleinen Flugplatz von San Pedro Sula. Du kannst dir das nicht vorstellen, Philip — von oben aus betrachtet sieht es hier aus wie nach einem Bombenangriff. Kilometerweit ist das Land vollständig verwüstet, Häuserruinen, eingestürzte Brücken und fast überall behelfsmäßige Friedhöfe. Wo wir in relativ geringer Höhe flogen, sahen wir menschliche Gliedmaßen aus einem Schlammmeer ragen, dazu Hunderte von Tierkadavern, mit dem Bauch nach oben. Der Gestank ist bestialisch. Die Straßen sind weggebrochen und ähneln aufgelösten Bändern auf aufgeschlitzter Pappe. Die entwurzelten Bäume liegen kreuz und quer übereinander. Nichts hat unter diesen Mikado-Wäldern überleben können. Ganze Berghänge sind verschwunden und mit ihnen die Dörfer, die sich an sie klammerten. Niemand wird die Toten zählen können, doch es sind Tausende. Wer wird die tatsächliche Zahl der verschütteten Leichen kennen? Wie können die Über-lebenden die Kraft aufbringen, diese Verzweiflung zu verarbeiten? Wir hätten Hunderte sein müssen, um ihnen zu helfen, und wir waren nur sechzehn in diesem Hubschrauber.
    Sag mir, Philip, sag mir, warum unsere großen Nationen Legionen von Menschen in den Krieg schicken und nicht in der Lage sind, eine Hand voll auszusenden, um Kinder zu retten? Wie viel Zeit wird verstreichen müssen, bis uns das bewusst wird? Dir, Philip, kann ich dies befremdliche Gefühl erklären: Ich bin inmitten all dieser Toten und fühle mich lebendiger denn je. Irgendetwas hat sich für mich geändert; zu leben ist für mich nicht länger ein Recht, es ist zu einem Privileg geworden. Ich hab dich sehr lieb, mein Philip,
    Susan
    25. Oktober Susan,
    diese Woche, als auch dein erster Brief eintraf wurden verschiedene Reportagen über die Schrecken in deiner Gegend veröffentlicht. Die Zeitungen sprechen von zehntausend Toten. Ich denke jede Sekunde an dich und stelle mir vor, was du durchmachst. Ich erzähle allen von dir, und alle erzählen mir von dir. In der Montclair Times von gestern berichtet ein Journalist von der humanitären Hilfe, die unser Land dorthin geschickt hat. Am Ende seines Artikels wirst du erwähnt; ich schneide ihn aus und füge ihn diesem Brief bei. Alle wollen wissen, wie es dir geht, was mir deine Abwesenheit nicht gerade erleichtert. Wie du mir fehlst/ Die Kurse haben wieder angefangen, und ich suche eine Wohnung in Uni Nähe. Ich habe ein renovierungsbedürftiges Künstleratelier in einem kleinen dreistöckigen Haus in der Broome Street in Aussicht. Das Viertel ist heruntergekommen, aber das Atelier ist groß und die Miete erschwinglich, vor allem wenn man bedenkt, dass man in Manhattan lebt! Wenn du zurückkommst, wohnen wir nur wenige Häuserblocks vom Filmforum entfernt, weißt du noch? Es ist kaum zu glauben - in einer Vitrine der Bar gegenüber hängt eine kleine honduranische Flagge. Während ich hier auf dich warte, komme ich jeden Tag daran vorbei; das ist ein Zeichen. Pass auf dich auf Du fehlst mir,
    Philip
    Susans Briefe trafen im Schnitt einmal pro Woche ein, und er beantwortete sie noch am selben Abend. Es kam vor, dass sich ihre Korrespondenz kreuzte und er so manche Antwort erhielt, noch ehe er die Fragen gestellt hatte. Die Bevölkerung auf dem zwanzigsten Breitengrad hatte sich mit Mut gewappnet, und das
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