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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du
Autoren: Unbekannter Autor
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Gott, ist dieses Volk schön in seinem Elend! Mein Weihnachtsgeschenk bekomme ich von Juan; es ist mein erstes Haus. Es wird sehr schön, und ich kann schon in wenigen Wochen einziehen. Juan wartet das Ende des Monats ab, denn wenn der Regen aufhört, kann er die Fassade streichen. Ich muss es dir beschreiben: Den Sockel hat er aus Lehm, vermischt mit Stroh und Kieseln, gebaut, dann die Mauern mit Ziegelsteinen hochgezogen. Mit Hilfe von Männern aus dem Dorf hat er Fenster, die zu beiden Seiten der hübschen blauen Tür angebracht werden, aus den Trümmern gerettet. Der Boden des einzigen Raumes ist noch aus gestampftem Lehm. An der linken Wand baut er einen Kamin, daneben ein Steinbecken; das wird meine Küchenecke sein. Für die Dusche will er eine Zisterne auf dem Flachdach anbringen. Wenn ich an einer Kette ziehe, habe ich kaltes Wasser oder lauwarmes, je nach Tageszeit. Nach dieser Beschreibung wird dir mein Badezimmer mickrig und mein ganzes Haus spartanisch erscheinen, aber ich weiß jetzt schon, dass es voller Leben sein wird. Ich werde mir mein Büro in einer Ecke des Raums einrichten; dort will Juan den Holzfußboden verlegen, sobald er geeignetes Material gefunden hat. Eine Leiter führt zum Mezzanin, wo meine Matratze hinkommt. So, genug von meinem Haus, jetzt möchte ich von dir erfahren, wie du die Festtage verbracht hast, wie dein Leben verläuft. Du fehlst mir immer noch. Es regnet Küsse über deinem Bett, deine Susan
    29. Januar 1975 Susan,
    ich habe keinen Neujahrsgruß von dir bekommen! Das heißt, noch nicht. Ich hoffe, die kleine beigefügte Zeichnung leidet nicht allzu sehr unter der Reise. Du wirst dich fragen, was diese Morgenansicht einer Straße zu bedeuten hat. Nun, ich habe dir eine wichtige Neuigkeit mitzuteilen: Das mit dem Atelier in der Broome Street hat geklappt, ich wohne schon darin, und während ich dir jetzt schreibe, kann ich durchs Fenster auf eine ruhige Straße von SoHo sehen, die Straße, die ich dir gezeichnet habe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr der Umzug von Montclair hierher mein Leben verändert. Es ist, als hätte ich meine Orientierung verloren, und doch weiß ich, dass mir das sehr gut tut.
    Ich stehe früh auf und frühstücke im Café Reggio. Das ist zwar ein Umweg, aber ich liebe das Morgenlicht in den kleinen Straßen mit dem unregelmäßigen Pflaster und den Fassaden mit ihren im Zickzack verlaufenden Metalltreppen, und außerdem weiß ich, dass du diese
    Gegend liebst. Ich glaube, ich schreibe dir einfach irgendwas, damit du von Zeit zu Zeit an mich denkst, damit du mir antwortest und mir von dir erzählst. Ich hatte keine Ahnung, dass du mir so fehlen würdest, Susan. Ich klammere mich an meine Kurse und sage mir jeden Tag, dass die Zeit ohne dich zu lang ist, dass ich ins Flugzeug springen und zu dir kommen sollte, auch wenn es, wie du mir so oft gesagt hast, nicht mein Leben ist. Aber fern von dir frage ich mich, was mein Leben überhaupt soll.
    So, und wenn dieser Brief nicht im Papierkorb landet, dann, weil der Bourbon, den ich nebenbei geschlürft habe, seine Wirkung zeigt, weil ich mir verboten habe, den Brief morgen früh noch einmal zu lesen, weil ich ihn stattdessen noch heute Nacht in den Briefkasten an der nächsten Straßenecke werfe. Wenn ich mich frühmorgens auf den Weg mache, betrachte ich ihn aus den Augenwinkeln, als würde er mir etwas später am Tag einen Brief von dir bringen, den ich dann nach der Uni vorfinde. Manchmal kommt es mir vor, als würde er mich angrinsen, mich zum Besten halten. Es ist saukalt bei uns. Ich umarme dich,
    Philip
    27. Februar 1975 Philip,
    ein kurzer Brief nur. Entschuldige, dass ich mich nicht öfter melde, aber ich ersticke zurzeit in Arbeit. Wenn ich heimkomme, bin ich so erschöpft, dass ich nicht mehr die Kraft habe zum Schreiben, dass ich mich kaum die Treppe zu meiner Matratze hochschleppen kann, um ein paar Stunden zu schlafen. Der Februar geht zu Ende, drei Wochen ohne Regen, das grenzt an ein Wunder. Die ersten Staubwolken folgen auf den Schlamm. Wir konnten endlich richtig loslegen, und ich glaube, wir ernten allmählich die ersten Früchte unserer Bemühungen: Das Leben gewinnt die Oberhand.
    Heute sitze ich zum ersten Mal an meinem Schreibtisch. Ich habe deine Zeichnung am Kamin befestigt, damit wir dieselbe Aussicht haben. Ich freue mich, dass du nach Manhattan gezogen bist. Und wie fühlst du dich so an der Uni? Du musst doch von tausend hübschen Studentinnen umgeben sein, die
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