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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du
Autoren: Unbekannter Autor
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entschieden, was du machen willst?« »Zwei Jahre Cooper Union in New York, und nach der Kunstakademie versuche ich, Karriere in einer großen Werbeagentur zu machen.«
    »Also hast du deine Meinung nicht geändert? Unsinn, was ich sage, schließlich änderst du deine Meinung nie.« »Im Gegensatz zu dir?«
    »Philip, du wärst nicht mitgekommen, wenn ich dich darum gebeten hätte, weil es einfach nicht dein Leben ist. Und ich, ich kann nicht hier bleiben, weil es nicht mein Leben ist. Also hör auf, ein langes Gesicht zu machen.«
    Susan schleckt genüsslich ihren Löffel ab, füllt ihn und führt ihn von Zeit zu Zeit auch an Philips Mund, der es willig mit sich geschehen lässt. Sie kratzt den Grund des Bechers aus, versucht, die letzten Mandelsplitter an den Seiten zu erwischen. Sie presst die Nase an die Scheibe. Die große Uhr an der Wand gegenüber zeigt fünf Uhr an. Es folgt ein kurzes befremdliches Schweigen. Schließlich beugt sie sich über den Tisch, schlingt die Arme um Philips Hals und flüstert ihm ins Ohr:
    »Ich fürchte mich, weißt du?«
    Philip schiebt sie ein wenig zurück, um sie besser ansehen zu können. »Ich auch.«
    Um drei Uhr morgens rollte eine erste, neun Meter hohe Flutwelle heran, zerstörte den Damm von Puerto Lempira und schob Tonnen von Erdreich und Steinen zum Hafen, der buchstäblich zerquetscht wurde. Die Kraft des Sturms knickte den Metallkran ab, sein Ausleger krachte auf das Containerschiff Rio Platano und spaltete die Brücke, sodass es im aufgewühlten Wasser versank. Nur sein Bug tauchte, zornig zum Himmel gerichtet, bisweilen zwischen zwei Wellen auf; und in der Nacht verschwand er für immer im Dunkel. In dieser Region, in der alljährlich ungeheure Wassermassen niedergehen, wurden diejenigen, die den ersten Angriff von Fifi überlebt hatten und ins Landesinnere zu fliehen suchten, nun Opfer der überquellenden Flüsse, die, nachts geweckt, über ihre Ufer traten und alles auf ihrem Weg mit sich fortrissen. Sämtliche Ortschaften im Tal verschwanden in den brodelnden Wassermassen, die abgebrochene Baumstämme, Brückenteile, Trümmer von Straßen und Häusern mit sich führten. In der Gegend von Limon wurden Dörfer - an den Hängen des Amapala, Piedra Blanca, Biscuampo Grande, La Jigua und Capiro gelegen -samt dem Erdreich in die bereits überschwemmten Täler hinabgespült. Überlebende, die sich auf die wenigen noch stehenden Bäume hatten flüchten können, kamen in den darauf folgenden Stunden um. Gegen zwei Uhr dreißig schlug die dritte, mehr als elf Meter hohe Flutwelle mit voller Wucht auf den Bezirk mit dem unheilvollen Namen Atlantida ein. Millionen Tonnen Wasser rollten auf La Ceiba und Tela zu, bahnten sich einen Weg durch die schmalen Gassen und gewannen dadurch, dass sie eingeengt wurden, noch mehr Kraft. Die Häuser am Ufer gerieten als Erste ins Wanken und brachen einfach auseinander, unterspült von den gewaltigen Wassermengen. Die Wellblechdächer hoben sich, um dann zu Boden geschleudert zu werden und die ersten Opfer dieser Naturkatastrophe unter sich zu begraben.
    Philips Augen gleiten zu ihren Brüsten hinab, deren Rundungen plötzlich etwas Provozierendes haben. Susan bemerkt es, öffnet den oberen Knopf ihrer Bluse und zieht das kleine Goldmedaillon hervor. »Aber mir kann ja nichts passieren, denn ich habe deinen Glücksbringer, den ich nie ablege. Er hat mich schon einmal gerettet. Ich habe es ihm zu verdanken, dass ich nicht mit ihnen in den Wagen gestiegen bin.«
    »Das hast du mir schon hundert Mal gesagt, Susan. Bitte sprich nicht davon, kurz bevor du ins Flugzeug steigst, hörst du?«
    »Auf jeden Fall schützt es mich«, sagt sie und lässt das Medaillon wieder in ihrem Ausschnitt verschwinden.
    Es war ein Geschenk. In einem Sommer hatten sie beschlossen, Blutsbrüder zu werden. Ihrem Vorhaben waren intensive Recherchen vorausgegangen. Und nach der Lektüre verschiedener IndianerBücher, die sie in der Bibliothek ausgeliehen und auf einer Bank des Pausenhofs eingehend studiert hatten, bestand kein Zweifel mehr daran, wie sie vorzugehen hatten. Sie mussten ihr Blut vermischen, sich also schneiden. Susan hatte das Jagdmesser aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters entwendet, und sie hatten sich damit in Philips Gartenhütte versteckt. Er hatte den Zeigefinger ausgestreckt und versucht, die Augen zu schließen, dann aber, als sich die Klinge der Fingerkuppe näherte, wurde ihm schwindelig. Da sie sich auch nicht ganz wohl dabei fühlte, steckten
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