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Wo bist du

Wo bist du

Titel: Wo bist du
Autoren: Unbekannter Autor
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wechseln?«
    »... und der mich jedes Jahr an meine Eltern erinnert hat. Du warst immer so aufmerksam in der Woche, in der sich ihr Unfall jährte.« »Themawechsel, bitte.«
    »Na, gut, dann blätter weiter und lass uns mit jeder Seite altem.«
    Er sieht sie unbewegt an und nimmt den Schatten in ihren Augen wahr. Sie schenkt ihm ein Lächeln und fährt fort: »Ich weiß, es ist egoistisch von mir, mich von dir zum Flugzeug begleiten zu lassen.« »Susan, warum machst du das?«
    »Weil 'das' eine konsequente Umsetzung meiner Träume ist. Ich will nicht enden wie meine Eltern, Philip. Sie haben ihr Leben damit zugebracht, ihre Kredite abzustottern, und wozu? Um am Ende beide an einem Baum zu kleben mit dem schönen Auto, das sie sich geleistet hatten. Ihr ganzes Leben, das waren zwei Sekunden in den Abendnachrichten; die konnte ich dann am Bildschirm des schönen Fernsehapparats sehen, der noch nicht abbezahlt war. Ich verurteile nichts und niemanden, Philip, aber ich will etwas anderes. Und mich um andere zu kümmern, das ist für mich ein lohnender Lebensinhalt.« Er betrachtet sie, verloren und doch voller Bewunderung für ihre Entschlossenheit. Seit dem Unfall ist sie nicht mehr ganz dieselbe; als hätte sich die Zeit beschleunigt, wie Karten, die man ablegt, zwei auf einmal, um sie schneller auszuteilen. Susan wirkt älter als ihre einundzwanzig Jahre, außer sie lacht, was häufig vorkommt. Sobald sie ihren Junior-College-Abschluss und das Associate-of-Arts-Diplom in der Tasche hatte, war sie für das Peace Corps tätig geworden, jene humanitäre Organisation, die junge Leute ins Ausland schickt.
    In knapp einer Stunde würde sie zu einem zweijährigen Aufenthalt in Honduras aufbrechen. Mehrere tausend Kilometer von New York entfernt, würde sie in eine andere Welt eintreten.
    In der Bucht von Puerto Castilla und in der von Puerto Cortes waren alle, die sonst gern unter freiem Himmel schliefen, lieber in ihre Häuser gegangen. Am Ende des Nachmittags war Wind aufgekommen, der bereits stärker wurde. Doch sie sorgten sich nicht. Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass sich ein tropischer Sturm ankündigte. Das Land war an Regengüsse gewöhnt, die zu dieser Jahreszeit häufig waren. Der Tag schien sich ungewöhnlich früh verabschieden zu wollen, die Vögel nahmen Reißaus - ein schlechtes Vorzeichen. Gegen Mitternacht wirbelte der Sand auf und bildete Wolken, nur wenige Zentimeter über dem Boden. Das Meer schwoll an, schnell, und schon waren die Rufe, die man sich zuwarf - die Boote mussten fester vertäut werden -, nicht mehr zu verstehen.
    Im Schein der zuckenden Blitze tanzten sie gefährlich auf den brodelnden Wogen. Von der Dünung getragen, stießen ihre hölzernen Flanken krachend aneinander. Um zwei Uhr fünfzehn wurde das fünfunddreißig Meter lange Frachtschiff San Andrea gegen das Riff geschleudert und versank innerhalb von acht Minuten, nachdem die ganze Backbordseite aufgeschlitzt worden war. Im selben Augenblick hob auf dem kleinen Flugplatz von La Ceiba die vor einem Hangar parkende, silbergraue DC3 unvermittelt ab, um gleich darauf zu Füßen des Gebildes, das als Kontrollturm diente, wieder herunterzukrachen; es war kein Pilot an Bord. Die beiden Propeller knickten ab, und das
    Leitwerk zerbrach in zwei Teile. Wenige Minuten später kippte der Tanklastwagen auf die Seite, rutschte, und eine Funkengarbe entzündete das Benzin.
    Philip greift nach Susans Hand, dreht sie um und streichelt die Innenfläche.
    »Du wirst mir fehlen, Susan.«
    »Du mir auch ... und wie!«
    »Einerseits bin ich stolz auf dich, andererseits hasse ich es, so im Stich gelassen zu werden.«
    »Hör bitte auf. Wir hatten uns doch fest vorgenommen, dass keine Tränen fließen.«
    »Verlang nicht das Unmögliche!«
    Einer zum anderen vorgeneigt, teilen sie die Trauer der Trennung und das Glück einer neunzehnjährigen Verbundenheit, die fast ihr ganzes Leben ausmacht.
    »Höre ich von dir?«, fragt er mit einer Kleinjungenstimme. »Nein!« »Schreibst du mir?«
    »Meinst du, ich könnte ein Eis bekommen?«
    Er dreht sich um, winkt den Kellner herbei und bestellt zwei Kugeln Vanilleeis, darüber heiße, geschmolzene Schokolade, bestreut mit Mandelsplittern, und das Ganze mit flüssigem Karamell übergossen, genau in dieser Zusammenstellung ihr absolutes Lieblingsdessert. Susan sieht ihm geradewegs in die Augen.
    »Und du?«
    »Ich schreibe dir, sobald ich deine Adresse habe.«
    »Nein, ich meine, hast du dich
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