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Wir zwei sind Du und Ich

Wir zwei sind Du und Ich

Titel: Wir zwei sind Du und Ich
Autoren: Diana Raufelder
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Lehmann, steht vom Tisch auf und eilt ins Wohnzimmer.
    „Und, habt ihr heute endlich die Mathearbeit zurückbekommen?“
    Ri verschluckt sich bei der Frage ihres Vaters beinahe und nimmt erst einmal einen großen Schluck Wasser, um Zeit zu gewinnen. Vor lauter Aufregung hatte sie die Mathearbeit ganz vergessen! Jetzt war es zu spät, um sich eine Ausrede auszudenken.
    Zögerlich nickt sie. Ihr Blick fällt dabei auf den grünen, schleimigen Brei mit Rosenkohl. Ihr wird furchtbar übel.
    „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“, fragt Ris Vater freudig.
    Ja warum wohl, denkt Ri und ärgert sich über sein mangelndes Einfühlungsvermögen. Wortlos kramt sie in ihrer Schultasche, die noch neben der Garderobe liegt und streckt ihm das Arbeitsheft entgegen.
    Er blättert darin, als würde er unterm Weihnachtsbaum sitzen und ein Geschenk auspacken, denkt Ri. Wie kann man nur so versessen auf Noten sein?
    „Was?“ Bei dem entsetzten Aufschrei ihres Vaters zuckt Ri zusammen.
    „Schon wieder eine 5!“ Dicke Zornesfalten graben sich in seine Stirn. Aus den Augenwinkeln kann Ri die roten Flecken an seinem Hals sehen und die dicke blaue Ader, die wild pulsierend hervortritt, als würde sie gleich platzen.
    „Jetzt reicht es mir mit dir, Ricarda! Wie kannst du nur so blöd sein?“
    Ri bleibt einfach zusammengesunken auf ihrem Stuhl sitzen und zerdrückt mit der Gabel die Kartoffeln auf ihrem Teller.
    Frau Lehmann kommt aufgeregt aus dem Wohnzimmer gerannt. „Was ist denn jetzt wieder los? Kann man euch nicht mal zwei Minuten allein lassen?“
    „Deine Tochter hat wieder eine 5 in Mathe!“, schreit Herr Lehmann jetzt seine Frau an und hält ihr die große rote 5 im Arbeitsheft entgegen. „Wusstest du das?“
    Zum Glück weiß er nichts von dem Chemietest heute, denkt Ri und zermatscht dabei die Rosenkohlbällchen.
    „Was?“, fragt jetzt auch Ris Mutter. „Wie konnte denn das passieren?“
    Ist gar nicht so schwer, denkt Ri, sagt aber nichts, sondern zieht nur ratlos ihre Schultern hoch.
    Herr Lehmanns Kopf ist bereits ziemlich rot. „Das reicht, Ricarda! So geht es nicht mehr weiter. Morgen melde ich dich auf dem Schweizer Internat an. Die Formulare habe ich mir bereits schicken lassen. Die werden dich schon zurechtbiegen!“
    Ri starrt die weiße Wand an. Leere, überall in ihr. Dicke Tränen kullern einfach aus ihr heraus. Aber ganz leise. Lautlos.
    „Du brauchst jetzt nicht heulen“, raunzt ihr Vater sie an. „Das hast du dir selbst zuzuschreiben!“
    Ihre Mutter legt sanft eine Hand auf Ris Schulter, aber Ri spürt nichts. Eine unbekannte Kraft in ihr lässt sie aufspringen. Dabei fällt der Stuhl um und stürzt laut krachend zu Boden. Unter den entsetzten Blicken ihrer Eltern rennt sie nach oben.
    „Hiergeblieben, Fräulein!“, schreit ihr Vater ihr hinterher, aber da ist sie schon in ihrem Zimmer. Mit zitternden Händen schließt sie die Tür zweimal ab, rennt ins Badezimmer und übergibt sich.
    Über der Kloschüssel hängend, hört sie die Stimme ihres Vaters, die durch die Wände dringt: „Warum macht sie das? Sie ist die Tochter eines Professors, da hat sie mir gegenüber doch eine gewisse Verantwortung! Was soll ich denn meinen Kollegen erzählen? Sie hat doch alles, was man sich wünschen kann!“
    Wenn es nur so wäre, denkt Ri. Erschöpft rappelt sie sich vom kalten Fliesenboden auf, drückt die Klospülung und geht zum Waschbecken. Ihre Knie zittern, als sie sich mit kaltem Wasser das Gesicht abwäscht. Mit letzter Kraft lässt sie sich auf ihr Bett fallen und schaltet die Stereoanlage ein, damit keine wutgetränkten Worte mehr durch die Wände kriechen. Leonard singt und umarmt sie mit seiner Stimme.
    Ri kann keine Ruhe finden. Es ist schon nach drei Uhr und sie liegt immer noch wach auf ihrem Bett. Wie so oft stellt sie sich vor, morgen früh in den ersten ICE nach Süden zu steigen. In Südfrankreich würde sie aussteigen, am Meer spazieren gehen und dann in einem Café sitzen, ein frisches Croissant in heiße Schokolade tauchen und die vorbeiziehenden Menschen betrachten. Niemand würde Erwartungen an sie stellen, die sie nicht erfüllen kann. Sie würde endlich niemanden mehr enttäuschen. Die Sonnenstrahlen würden ihr Gesicht streicheln, bis sie sich stark und unverwundbar fühlen würde. Dann würde sie am Strand Muscheln sammeln - nur die schönsten, mit einer weißen gewundenen Schale und zarten hellbraunen Streifen. Kinder des Meeres. Zeichen der Unendlichkeit.
    Warum bin ich
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