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Wir zwei sind Du und Ich

Wir zwei sind Du und Ich

Titel: Wir zwei sind Du und Ich
Autoren: Diana Raufelder
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findet Ri, die Herrn Krause schon wegen seiner übertriebenen und wie sie findet, unnatürlichen Begeisterung für mathematische Gleichungen nicht leiden kann.
    Dem Eintreten Krauses folgt ein gemeinschaftliches Stöhnen, als die Klasse den Stapel mit den Arbeitsheften, den er unter seinem Arm trägt, entdeckt.
    „Auch das noch”, flüstert Ri Belinda zu. „Jetzt kriegen wir auch noch die Mathearbeit zurück. Als wäre der Morgen nicht schon schlimm genug.“
    „Mensch Ri, ein Übel kommt eben selten allein”, sagt Belinda in gewohnter Gelassenheit. „Das weißte doch!“
    „Ach, könnte ich nur wie du sein!“, murmelt Ri und ergibt sich ihrem Schicksal in Form eines roten Arbeitsheftes, das Herr Krause ihr kommentarlos auf den Tisch schmeißt.
    Seite für Seite blättert sie durch die überwiegend rot angestrichenen Aufgaben, die aussehen, als würden sie bluten. Ergebnis eines unheilvollen Massakers. Auf der letzten beschriebenen Seite dann eine große rote 5. Was hatte sie auch anderes erwartet?
    Den Rest des Schulvormittags lässt Ri einfach über sich ergehen. Nicht einmal Belinda kann sie noch aufheitern. Stumm sitzt sie in den Unterrichtsstunden, kritzelt auf ihrem Block herum oder starrt ins Leere. Immer wieder denkt Ri an ihren Vater und den Streit, der sie heute Abend erwartet, wenn sie ihm die Mathearbeit vorlegt. Sie überlegt, aber es gibt einfach keinen Ausweg. Er wird es sowieso erfahren. Das letzte Mal hat er Krause sogar angerufen und das war oberpeinlich gewesen!
    Manchmal möchte Ri einfach davonlaufen. Weg aus ihrem Leben, das nur voller schlechter Gefühle ist. Ein Sumpf, in den man mit jedem Schritt tiefer einsinkt. Wie schön wäre es, wenn sie einfach den Rucksack packen, am Bahnhof in irgendeinen ICE steigen und nach Süden fahren würde. Landschaften würden an ihr vorbeiziehen, bis zum Meer, wo es nicht mehr weiter geht. Das hat sie sich schon so oft ausgemalt. Nachts, wenn sie im Bett liegt und die Sterne anschaut. Aber dafür bin ich einfach zu feige, denkt sie.

Jakob
    Nach der Schule zieht es Ri wieder ins Sound-In. Erst einmal Trost finden in der Musik und in Leonards Stimme. An der Schönhauser Allee steigt sie in die U2 und fährt den langen Weg bis zum Zoo. Quer durch die Stadt. Ri schaut die Leute an, die ein- und aussteigen, Bücher lesen, Musik hören oder mit ihren Handys telefonieren. Sie mag Berlin: Die U-Bahnen, die niemals sauber sind, den Geruch nach Teer, die holprigen Gehsteige und das Bunte überall. Nirgends sieht es gleich aus. Jede Ecke ist einmalig und auf ihre Art wunderschön.
    Während sich die Bahn durch den Untergrund der Metropole schlängelt, überlegt Ri, wie sie Ben wiederfinden kann. Im Telefonbuch? Gibt es überhaupt noch Telefonbücher? Googeln? Seit wann er wohl wieder in Berlin ist? Oder war es doch nicht Ben, den sie gestern gesehen hat? Vielleicht in ihrem alten Kiez in Kreuzberg, wo sie beide als Kinder gewohnt haben? Womöglich wohnt er in der gleichen Gegend wie früher? Rund um das Kottbusser Tor?
    Ri erinnert sich an die vielen Ecken im Kiez, jede für immer mit einer anderen Erinnerung verwoben. Sie kannten jede Abkürzung, jeden verlassenen Keller, jeden Dachstuhl und jeden Trampelpfad. Und die Insel! Ihre Insel! In ihrer Erinnerung sieht sie sich und Ben, wie sie sich durch das dichte Gebüsch zur Insel vorkämpfen.
     
    Sie muss ungefähr neun gewesen sein. Ben dreizehn. Es war Spätherbst, die Blätter waren schon gefallen. Ein eisiger Wind wehte von der Spree über die Insel. Aus dem dichten Gebüsch drang ein leises Wimmern und Winseln. Mit aller Kraft hatte Ben das Gebüsch zur Seite geschoben. Ri stand angespannt daneben. Ganz unten auf dem gefrorenen Boden lag ein winziges Hundebaby. Eingekringelt, nackt und mit geschlossenen Augen. Ri schrie erschrocken auf.
    „Ist es tot?“, fragte sie Ben. Sie traute sich nicht, den Welpen anzufassen.
    Ben hatte keine Angst, wie immer. Ohne zu zögern zog er seine Jacke aus und packte das Kleine vorsichtig darin ein.
    „Es lebt“, sagte er.
    „Es ist so winzig“, fand Ri und streichelte vorsichtig mit ihrem Zeigefinger über die weiche Haut.
    „Ja, fast zerbrechlich“, sagte Ben.
    „Wir müssen es retten, hier ist es viel zu kalt. Wenn wir ihm nicht helfen, dann stirbt es.“
    Und so saßen die beiden auf der Insel, mit dem Hundebaby auf dem Arm und überlegten.
    Das war kurz bevor Lola starb. Kurz bevor Ben aus Ris Leben verschwand. Kurz bevor das Leben aufhörte, schön zu
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