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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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aus der Hand schlagen? Seine Eltern – die er hasste und zu denen er keinen Kontakt mehr hatte – anrufen? Oder die Polizei alarmieren, damit sie ihn vor sich selbst schützte? Was war richtig? Auf jeden Fall musste er mein Nichtreagieren als Zustimmung deuten.
    Hilko lächelte und band sich den linken Arm mit einem Lederriemen ab. „Es ist überhaupt nicht schlimm“, sagte er. „Es ist noch nicht einmal teuer. Ich hole es mir in Nimwegen. Ist nur ein Katzensprung.“ Er drückte an seinen Adern herum, bis er die Richtige gefunden hatte und stach zu. Dabei spritzte ein wenig Blut.
    Hilko schaffte es noch, die Spritze herauszuziehen und den Gurt zu lockern, dann sackte er ganz langsam – wie in Zeitlupe – in den Sessel zurück und schloss die Augen. Ich flüsterte seinen Namen, er reagierte nicht. Ich kannte die Wirkung von Heroin nur aus Filmen und Erzählungen. Was ich hier erlebte, sah aus wie der abrupte Übergang in einen Zustand, der nichts mit Ekstase oder Rausch zu tun hatte, sondern dem Tod ganz nahe war. Seine Brust hob und senkte sich, die Pupillen zuckten unter den Lidern und der rechte Arm erstarrte wenige Zentimeter über der Sessellehne. Ich blies die Kerze aus und fühlte mich hilflos.
    Und feige.

    Eine halbe Stunde hielt ich es neben Hilko aus, dann fuhr ich los. Zuhause rief ich Markus an. Wir verabredeten uns in meiner Kamener Stammkneipe. Als er kam, hatte ich bereits ein paar Bier und Schnäpse gestürzt. Ich erzählte ihm jedes Detail von meinem Besuch bei Hilko. Er hörte genau zu, stellte nur ein paar Fragen, um mir dann zu versichern, dass er genauso wie ich gehandelt hätte.
    „Töffels Tod hat ihn völlig aus der Bahn geworfen“, sagte ich.
    Markus griff nach seinem Glas und leerte es mit einem Schluck aus. „Man könnte meinen, dass du dich dafür schämst, nicht wie er an der Nadel zu hängen.“ Er bestellte eine neue Runde. „Hör zu, Ritsch: Uns trifft keine Schuld. Es war dieser verdammte Bauer. Der Kerl hat uns doch gejagt wie ein paar Karnickel. Dabei ist Töffel in eines dieser Löcher in der Scheune gefallen.“
    Ich stierte in mein Bierglas und er stieß mich ungeduldig an. „Ist doch so, oder?“
    „Das Foto“, sagte ich. „Er hätte niemals das Foto sehen dürfen. Es hätte niemals gemacht werden dürfen!“ Markus öffnete den Mund zu einem Protest, überlegte es sich dann aber anders und widmete sich dem Kräuterlikör.
    Töffel war damals nicht vor dem Bauern geflohen. Da waren die Botschaften des Lichtlosen gewesen und das Foto ... . All seine Albträume hatten Gestalt angenommen. Plötzlich schienen sie real und hatten die Welt der nächtlichen Einbildung und Fieberfantasien verlassen.
    Nach ein paar Runden beschlossen wir, dass ich so bald wie möglich Hilkos jüngeren Bruder anrufen sollte.
    Er hörte mir am nächsten Tag eine Zeitlang zu und erklärte dann, dass er über Hilkos Zustand Bescheid wusste. Er hatte sogar versucht, ihn zu einer Therapie zu bewegen, worauf Hilko wütend jeden Kontakt zu ihm abbrach.

Winter 1995

    Kurz vor Weihnachten war es dann Hilkos Bruder, der bei mir anrief. Hilkos Vermieter hatten über eine Woche nichts mehr von ihrem Mieter gesehen und gehört und beschlossen in dessen Wohnung nach dem Rechten zu sehen. Sie fanden ihn auf dem Fußboden. Diesmal hatte er es nicht mehr geschafft, die Spritze aus dem Arm zu bekommen.
    Die Beerdigung fand bereits am nächsten Tag in Unna statt.
    Ausgerechnet auf dem Friedhof sollten Markus und ich unseren alten Freund Leo wieder sehen. Und als wäre Hilkos Tod nicht schon schlimm genug, behauptete Leo, Neuigkeiten zu haben. Schlechte Neuigkeiten. „Wir müssen reden“, hatte er gesagt, während der Bagger Hilkos Grab zuschüttete. „Es geht um den Lichtlosen.“
    Wir hatten keine Wahl: Wir mussten Leos Einladung annehmen.
    Es wollte einfach kein Ende nehmen.

    Zwanzig Minuten vor acht hielt ich am Tag nach der Beerdigung vor Markus´ Wohnung. Er wartete bereits im Hauseingang und eilte auf meinen Wagen zu. “Scheißkälte!“, fluchte er. Ich ließ den Motor im Stand laufen und wartete, bis er sich angeschnallt hatte. Markus hielt die Hände in den warmen Luftzug der Heizung. „Ich frage dich noch einmal: Warum wohnt Leo ausgerechnet im Zedernweg? Irgendwo dort stand damals der Bauernhof – Hausfriedensbruch. “
    „Das ... kann Zufall sein“, versuchte ich mir selbst einzureden.
    Markus beugte sich so ruckartig nach vorn, dass der Gurt einrastete. „Zufall? Würdest du gern dort
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