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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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beugte sich verschwörerisch nach vorn. „Zu deiner eigenen Sicherheit.“
    „Und woher hast du sie?“
    Neben dem vollen Aschenbecher lag ein zerknittertes Taschenbuch. Mindestens zwei Dutzend Pappschnipsel ragten als Lesezeichen zwischen den Seiten hervor. Er blätterte eine Seite auf und fuhr mit dem Finger über die Zeilen. „Vierzig“, las Hilko. „Eins und hier ... die Drei.“ Die Zahlen auf der Seite waren mit einem grünen Textmarker gekennzeichnet. Er klappte das Buch zu. Ich nahm es in die Hand und las den Titel. „Das ist ein Kinderbuch von Erich Kästner.“
    „Es funktioniert mit jedem Buch“, erklärte Hilko ernsthaft. „Sogar mit den meisten Zeitungen.“
    „Mal angenommen, du kannst aus den ganzen Zahlen eine Botschaft lesen“, begann ich vorsichtig. „Worum geht es?“
    „Nee, nee, nee!“ Er drohte mir mit dem Finger. „Willst du, dass sie auch hinter dir her sind? Du hast doch sicher eine Freundin?“
    „Ich werde heiraten.“
    „Wow!“ Er patschte mit der flachen Hand auf den Tisch. Seine Bierdose fiel um und ihr restlicher Inhalt ergoss sich schäumend über den Kästner. Hilko ignorierte es. „Das ist das Beste, was du machen kannst. Wirklich! Man sollte nicht allein durch dieses Leben gehen. Meinen Glückwunsch!“ Er schüttelte mir die Hand. „Was ist mit den anderen? Sind die auch verheiratet?“ Er nahm sich ein Lebkuchenherz und hielt mir die Packung hin.
    „Na ja, Markus ist seit einigen Jahren in festen Händen, aber nicht verheiratet. Von Leo weiß ich nichts. Wir haben keinen Kontakt.“ Ich biss in das Lebkuchenherz, es war steinhart. David Bowies Stimme wurde leiser und verschwand. Eine Weile knisterte es in den Lautsprechern, dann hob sich die Nadel. Bier tropfte rhythmisch von der Tischplatte auf eine Zeitung am Boden. Im Hausflur wurde mit leisem Quietschen eine Tür geöffnet und wieder geschlossen.
    „Pst!“, machte Hilko, schlich zu seiner Wohnungstür und lauschte. „Sie gehören bestimmt auch zu denen“, flüsterte er mir zu.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte: „Das ist doch alles Unsinn. Hilko, du musst etwas unternehmen. Unter Leute gehen und ... “
    „Unter Leute!“, unterbrach er mich. „Woher soll ich wissen, welchen Leuten ich trauen kann?“
    „Dein Verhalten ist ... nun ... bedenklich. Du brauchst Hilfe.“
    „Pah! Bedenklich!“ Er grabschte ein paar Zettel vom Boden und ließ sie durch die Luft wirbeln. „Und was ist hiermit? Das sind alles Beweise! Sie beeinflussen uns über die Zirbeldrüse. Du musst dich vor allem vor Fernsehern, Computern und digitaler Technik hüten. Kapierst du das denn nicht?“ Er ließ sich kopfschüttelnd in den Sessel fallen. „Wenn du mir nicht glaubst ... wer dann?“ Er fuhr sich über die Haarstoppeln. „Kannst du mir etwas Geld leihen?“ Wut und Verzweiflung waren plötzlich verschwunden. Ich zögerte keine Sekunde. Seine ganze Wohnung stank nach Armut. Ich legte einen Fünfziger und einen Zehner auf den Tisch. Mehr Geld hatte ich nicht dabei.
    „Du bekommst es wieder“, versprach Hilko und ließ die Scheine in seiner Hosentasche verschwinden. Er holte eine blaue Keramikschüssel und eine Kerze aus einem Regal. Die Schüssel enthielt ein kleines Kunstlederetui, ein Feuerzeug, einen Löffel und etwas Winziges, dass in Alufolie gewickelt war. Ich sah meinem Freund schweigend zu, wie er zur Kochnische ging und mit einer gelben Plastikflasche Zitronensaftkonzentrat zurückkehrte. Er zündete die Kerze an.
    „Was wird das?“, fragte ich. Hilko faltete behutsam die Alufolie auseinander. Sie enthielt eine Substanz, die mich an eine Murmel aus Fensterkitt erinnerte. Er kratzte mit dem Fingernagel etwas von der Murmel ab, legte es auf den Löffel und begann die Substanz über der Kerze zu erhitzen. „Es ist bei Weitem nicht so schlimm wie das, was sie uns in die Wurst packen“, sagte er. „Ich habe es unter Kontrolle. Ehrlich!“
    Der Besuch bei Hilko war für mich von der ersten Sekunde an beklemmend, aber was ich jetzt sah, versetzte mich in Panik. Hilko war nicht nur völlig durcheinander, er nahm eine Droge, die für uns trotz aller Exzesse ein absolutes Tabu geblieben war. Ich betrachtete die blubbernde Masse auf dem Löffel und wünschte mich an einen anderen Ort. Hilko verdünnte das Heroin und zog es auf eine Spritze. Das Etui hatte keine Nagelschere oder Pinzetten enthalten, wie ich in meiner Naivität angenommen hatte, sondern ein Spritzbesteck.
    Was sollte ich tun? Ihm die Nadel
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