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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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sein?“
    „Weil ich mal in einer Fleischfabrik gearbeitet habe. Ich weiß genau, was die da anstellen. Und was die alles in die Wurst packen.“
    „Rattenschwänze“, gab ich zurück, in der schwachen Hoffnung, dass er die Sache nicht ernst meinte.
    „Quatsch! Keine Rattenschwänze! Sondern Präparate, die uns ruhig stellen sollen. Sie lagern ihre Wirkstoffe in der Zirbeldrüse ab.“ Er wertete mein Schweigen als Neugierde und fuhr fort: „Ich habe Beweise. Du musst sie dir ansehen. Kannst du vorbeikommen? Sofort?“
    „Das geht nicht.“
    „Morgen? Bitte!“
    Ich zögerte, und wieder tauchte jenes Bild vor mir auf: Töffel – vom Heuwender viermal durchbohrt. Hilko hält Töffels Hand, während ich nur wie gelähmt zusehe. Genau in diesem Moment geriet Hilkos Leben außer Kontrolle. Immer wieder hatte ich ihn vertröstet, wenn er mich um einen Besuch bat.
    „Ich kann am Samstag.“

    Es war ein schöner Morgen, wolkenlos, kalt und trocken. Hilkos Wohnung befand sich in einer typischen Mittelstandsgegend. Volkswagenkombis und Toyotalimousinen parkten in den schnurgeraden Einfahrten. Alles sah blitzblank und geordnet aus. Nach kurzer Suche hielt ich vor der Hausnummer 34.
    Es gab zwei Klingeln. Auf der einen stand in geschwungener Schönschrift ein Familienname, die Klingel darüber war nur mit Hilkos Initialen beschriftet: einem Doppel-H.
    Hilkos Anblick erschreckte mich und ich hatte Mühe, es zu verbergen. Er lehnte sich erschöpft an den Türpfosten und blinzelte in das Tageslicht. Seine dünnen, immer weiter in Richtung Hinterkopf zurückweichenden Haare hatte er zu kurzen Stoppeln geschoren; die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Hilko war schon immer groß und schlaksig gewesen, aber jetzt bestand er nur noch aus Haut und Knochen. Er drückte sich an mich und ich roch Rasierwasser. Er hatte sich frisch rasiert und extra schick gemacht. Hilko sah für mich aus wie ein Kriegsgefangener, den man nach seiner Rückkehr in die Heimat mit neuer, aber viel zu großer Kleidung versehen hatte. Die Hose schlackerte um seine dünnen Beine, das Hemd war mehrere Nummern zu groß.
    Er führte mich in seine Wohnung im oberen Stockwerk. Eigentlich bestand sie nur aus einem einzigen Raum. Zur Rechten führte eine Tür in ein kleines Bad. Hinter einem Plastikvorhang war eine Kochnische. Das Mobiliar bildeten zwei Sessel, eine Schlafcouch, ein Tisch und schiefe Regale, die vollgestopft waren mit Büchern, Zeitschriften und losen Blättern. Auch auf dem Boden lagen Zettel, ausgeschnittene Zeitungsartikel und herausgerissene Buchseiten. Auf dem Tisch direkt unter dem einzigen Fenster stand seine alte Stereoanlage mit den orangefarbenen Lautsprechern. Es gab keine modernen Geräte, noch nicht einmal einen Fernseher. Hilko befreite einen der Sessel von einem Stapel Zeitschriften. Ich setzte mich und fühlte mich unbehaglich. Hilko lebte in einem absoluten Chaos. „Hast du mittlerweile wieder Arbeit?“, fragte ich.
    „Nee.“ Hilko kramte hinter dem Vorhang und kehrte mit zwei Dosen Bier und einer angebrochenen Packung Lebkuchenherzen zurück. Er setzte sich, sprang abrupt wieder auf, lief gebückt zum Fenster, als befände er sich im Schützengraben und spähte nach draußen. „Vielleicht ist dir jemand gefolgt“, murmelte er. Ich öffnete das Bier und nahm einen Schluck, obwohl es gerade erst Mittag war. „Du hast noch immer deine alte Stereoanlage.“
    Er starrte mich an, als wäre ich der erste Mensch, den er seit Ewigkeiten zu Gesicht bekam. „Ich freue mich. Mann, Ritsch! Ich freue mich.“ Er fummelte umständlich eine Schallplatte aus ihrer Hülle und legte sie auf. Ich erkannte die Musik sofort. David Bowies Jean genie quäkte aus den billigen Lautsprechern. Hilko lauschte hingebungsvoll und bewegte den rechten Zeigefinger im Takt. Er drehte ein wenig leiser und erklärte: „Jede CD enthält Frequenzen, die dein Unterbewusstsein beeinflussen. Vinyl ist ungefährlich. Wusstest du das nicht?“
    „Das ist nicht dein Ernst.“
    „Mit den modernen Fernsehern ist es genauso.“ Er bückte sich und hob einen Notizzettel vom Boden auf. „Sieh dir das an.“
    Jeder Quadratzentimeter des Papiers war mit handgeschriebenen Zahlen übersät. Ich versuchte, ihren Sinn zu verstehen, doch es schien nur eine wahllose Aneinanderreihung zu sein. Hilko gab mir weitere, identische Zettel. „Das sind verschlüsselte Botschaften. Ich kann sie entziffern.“
    „Aha? Was bedeuten sie?“
    „Das darf ich dir nicht sagen.“ Er
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