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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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Zacken. Die Krallen des Heuwenders. Töffel machte zwei flache Atemzüge, ließ die Luft entweichen und lag dann einfach still. Der Bauer streckte die Arme nach Töffel aus und zog sie wieder zurück. „Bitte atme“, sagte Hilko. „Bitte, bitte, bitte atme.“

    Eugen Grundmann blieb verschollen. Ich glaube, es wurde nie ernsthaft nach dem Hausmeister gesucht. Töffels Tante hockt vielleicht noch immer ganz allein im dritten Stock des Hochhauses. Ich begegnete ihr später noch ein paar Mal im Supermarkt. Sie war fett geworden, schnaufte bei jedem Schritt wie ein Dampfkessel und erkannte mich nie.
    Markus und ich lieferten auf dem Gymnasium ein miserables Halbjahreszeugnis ab und wechselten die Schule. Leo schaffte mit viel Mühe die Versetzung. Meine Eltern zogen ins Stadtzentrum. Von meinem neuen Zimmer aus konnte ich bei klarem Wetter die Zeiger an der Turmuhr der Stadtkirche erkennen.
    Leo verschwand einfach aus meinem Leben. Es hieß, dass ihm seine Mutter den Umgang mit uns strengstens verboten hatte. Aber wir machten auch nicht den Versuch, irgendwie mit ihm Kontakt aufzunehmen. Der Unfall hatte unsere Freundschaft mit einem Schlag beendet, während Markus und ich Leidensgenossen blieben. Wir versuchten uns auf der neuen Schule und in einem anderen Leben zu arrangieren. Was uns verbunden hatte, war nicht völlig zerrissen und irgendwann dachten wir nicht mehr automatisch an Töffel, wenn wir uns ansahen. Es folgten vergeudete Jahre der Halt- und Zügellosigkeit. Ganze Monate ohne Erinnerung.
    Anfang der Neunziger geriet ich allmählich in ruhigeres Fahrwasser und kehrte Unna den Rücken. Mein Geburtsort ließ mich zu sehr in der Vergangenheit leben. Schon Jahre zuvor suchte ich Ablenkung in der Nachbarstadt. In der Kindheit schien dieses Kamen fern und exotisch wie Madagaskar oder die DDR, bis Kamen für mich zu einem Ort wurde, an dem ich unerkannt untertauchen konnte. Es gab da diese Kneipe unter den Betonpfeilern der Hochstraße. Ein großer Raum in ewiger Dämmerung. Eine endlose Theke mit einem Pistazienautomaten und einem Wirt dahinter, der Geschichten erzählte und nicht ganz farbechte Polaroidaufnahmen herumreichte, die ihn in schwarzen Damenstrumpfhosen zeigten. Manchmal, wenn er die Tür bereits von innen verschlossen hatte, die letzten Stammgäste mit schwerer Zunge Halbsätze brabbelten, überkam mich der Drang, die Geschichte meiner Jugend zu erzählen. Aber dann zog ich es doch jedes Mal vor, mein schlechtes Gewissen in Alkohol zu ertränken.
    Meine neue Wohnung befand sich in unmittelbarer Nähe zur offenliegenden Kanalisation Kamens. Hinter dem Haus führte ein Fußweg zu einer kleinen Brücke. Von dort aus blickte man in ein kleines Tal. Bei starkem Regen trat das schmutzige Wasser über die Ufer und hinterließ im Gras einen graubraunen Schlamm. Abends hing manchmal feiner Nebel über dem Tal, dann kamen die Ratten hervor. Ich hörte sie geschäftig rascheln und quieken. Katzen – groß, halb verwildert und mit den Blessuren zahlreicher Kämpfe – durchstreiften dann das Ge-ände auf der Jagd nach ihnen. Sie mussten vorsichtig sein. Rutschten sie in das steile Betonbett der offenen Kanalisation waren sie verloren.
    So wie ich.

    Hilko konzentrierte sich mehr und mehr auf das, womit er schon vor Töffels Tod angefangen hatte. Er trank und hing in Kneipen ab. Seine Eltern schickten ihn auf ein Internat am Niederrhein. Markus und ich sahen ihn nur noch am Wochenende. Alkohol war zum festen Bestandteil des Alltags geworden, aber Hilko übertrumpfte uns bei Weitem in seiner Maßlosigkeit. Er musste das Internat verlassen, suchte sich in Kleve eine Lehrstelle und blieb in dem Ort hängen. Gelegentlich tauchte er überraschend bei mir oder Markus auf. An seinen besten Tagen schien er völlig klar, um beim nächsten Zusammentreffen nur noch wirres Zeug zu reden. Wir sahen ihn immer seltener. Weder Markus noch ich waren darüber traurig. Hilko erinnerte uns zu sehr an früher. An unsere Schuld.

Herbst 1995

    Ende Oktober rief mich Hilko wieder einmal an.
    „Sie sind hinter mir her“, hörte ich ihn am anderen Ende der Leitung sagen. Er atmete kurz und hektisch.
    „Wer?“, fragte ich.
    „Geheimdienste, die Polizei und die ... die Metzgerinnung.“
    Ich unterdrückte ein Aufstöhnen. Hilko fühlte sich seit langem beobachtet und abgehört, aber dass sich die Metzgerinnung in den Kreis seiner Verfolger eingereiht hatte, war neu. „Wieso sollen denn ausgerechnet die Metzger hinter dir her
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