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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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lag nichts Freundliches. Für sie waren wir die unseligen Relikte einer Vergangenheit, die ihren Mann noch immer verfolgte.
    Ich schloss kurz die Augen und in meinem Kopf erschienen die Bilder von damals. Sie ließen sich nicht mehr vertreiben und bildeten in meinem Bewusstsein schmerzende Druckstellen der Schuld. Alles war wieder da.

Sommer 1975

    Jeder hat einen glücklichen Geruch. Plötzlich ist er da, erinnert an einen ganz besonderen Augenblick, einen Menschen, den man liebte – vielleicht noch immer liebt – oder an die Kindheit.
    Mein Geruch ist der Duft frisch gemähter Getreidefelder. Schwer hängt er im Spätsommer über den harten, gelben Stoppeln. Ich atme tief ein, spüre ein trockenes Kratzen in der Kehle und weiß, wie es damals war, als ein Jahr mindestens dreimal so lang zu sein schien und wir glaubten, alles erreichen zu können. Wir fühlten uns unsterblich. Wir würden erleben, dass die Menschen Kolonien auf dem Mars errichten und die Autos fliegen können.
    Ich nenne es die Zeit der großen Freundschaft und des Lebens im Zwischenreich: zu alt, um ein Kind zu sein und doch noch weit entfernt von der Welt der Erwachsenen.
    Wir waren zu fünft: Markus, Hilko, Leo, Töffel – der eigentlich Christoph hieß – und ich. Nur die Lehrer zitierten mich mit meinem richtigen Namen an die verhasste Tafel: Richard. Für meine Freunde war ich Ritsch.
    Es gab noch andere in unserem Bekanntenkreis, aber die spielen keine große Rolle. Sie wissen nichts von jenen Ereignissen in den Siebzigern. Deshalb haben sie auch überlebt.

    Unser Stadtteil gehörte der NEUEN HEIMAT, der Kanzler hieß für alle Ewigkeiten Helmut Schmidt und wir erkundeten die Welt zu Fuß. Wir drückten uns bei den beiden Zweiradhändlern der Stadt herum, zählten täglich unser Erspartes – das nie sonderlich anwuchs, weil wir ständig Geld für die Musik von Deep Purple, Alice Cooper und David Bowie ausgaben – und hofften zum 15. Geburtstag auf eine grüne Zündapp oder eine orangefarbene Kreidler. Bis dahin sollten aber noch unendliche Monate ins Land gehen.
    Die Fahrräder verrosteten in den Garagen der Eltern, zum Fahrradfahren fühlten wir uns zu alt – zu erwachsen. Fahrräder galten seit einiger Zeit als peinlich . Und dennoch legten wir jeden Tag etliche Kilometer zurück. In das Stadtzentrum, wo die Älteren ihre frisierten Mopeds aufheulen ließen. Wir lehnten uns an den Brunnen auf dem Alten Markt, beobachteten sie neidisch und redeten. Wenn es regnete, gingen wir in die nahe Bibliothek, blätterten in den Bildbänden, staunten über die Tierwelt von Australien und die Straßenschluchten New Yorks, verschlangen die Dokumentationen über das Römische Imperium und den Absturz der Hindenburg. Die exotischsten Orte, die wir bisher besucht hatten, waren die holländische Nordseeküste oder die Alpen, aber keinen von uns zog es in die Ferne. Es war uns egal, dass wir fast nie aus Unna herauskamen. Die spannendsten Abenteuer fanden in unseren Köpfen statt.
    „Wie klangen denn die Ameisen?“ Töffel knabberte an seinem Daumennagel und sah mich erwartungsvoll an.
    „Wie Grillen“, erwiderte ich. „Wie viel zu große Grillen.“
    Töffel schien sich einen Moment lang das Zirpen von Grillen in Erinnerung zu rufen. Er zog sich über den Rand des steinernen Brunnens und versuchte, etwas von dem weißen Schaum auf der Oberfläche des Wassers zu erhaschen. Immer wieder schüt-teten Witzbolde Waschpulver hinein. „Formicula hieß der Film“, sagte er dann. An Töffels Fingern glitzerte Seifenschaum. Er pustete und die kleinen Flocken wirbelten wie Schnee davon. „Ich hab’s in der Fernsehzeitung gelesen. Ameisen werden durch Atomstrahlen zu riesigen Monstern ... .“
    „Es heißt Radioaktivität“, murmelte Hilko. Hilko war kein Klugscheißer. Das wussten wir. Er kramte aus den Tiefen seines Bundeswehrparkas ein Paket billigen Tabak und begann, eine seiner dünnen Zigaretten zu drehen. Ohne dabei auf seine Finger sehen zu müssen. Eben routiniert. Hilko war mit fast sechzehn der Älteste von uns. Er besaß trotzdem noch kein Mofa, weil seine Eltern meinten, er müsste es sich durch Arbeit verdienen.
    Hilko war der Einzige von uns, der regelmäßig rauchte. Ich hatte es ein paar Mal probiert, aber die Versuche endeten jedes Mal mit einem schlimmen Hustenanfall. So, als wenn ich den beißenden Rauch eines Lagerfeuers inhalierte. Auch der Geschmack war ganz ähnlich.
    „Dieser Ameisenfilm ist doch eine uralte Schwarte.“ Leo
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