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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition)
Autoren: Raimon Weber
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wuchsen kleine, zähe Pflanzen. In einiger Entfernung rauschte der Verkehr über die Autobahn. Mit etwas Fantasie klang das wie Meeresbrandung.
    Wir beeilten uns, an dem kleinen Backsteinhaus mit den windschiefen Kaninchenställen vorbeizukommen. Es stellte die letzte Barriere dar. Meistens ließ sich dort niemand sehen. Aber wenn uns der Kaninchenzüchter oder seine Frau entdeckten, hetzten sie uns Bauer Grote auf den Hals. Zwischen dem Backsteingebäude und Grotes Bauernhof am Ende der Sackgasse lag unsere Zuflucht: Hausfriedensbruch. Ein verlassenes Gehöft. Vom Feldweg durch eine schnurgerade Reihe von Birken und einer Hecke getrennt. Es bestand nicht aus malerischen, westfälischen Fachwerkhäuschen und einer hölzernen Scheune, sondern aus zweckmäßigen Betonbauten mit Schieferdächern. Wahrscheinlich nicht älter als zwanzig Jahre.
    Es gab ein großes, zweistöckiges Wohnhaus mit einem direkten Zugang zu den Ställen. Ich stellte mir immer vor, wie der Bauer einst in aller Frühe nach einer ersten Tasse Kaffee den Flur entlang ging und die Tür zum Stall öffnete. Mindestens zwei Dutzend Kühe warteten dort auf ihn. Unruhig schabten sie an den hölzernen Trennwänden und ihr Atem stieg in der Kälte des Morgens wie feuchter Nebel auf. Vielleicht gab es auch Schweine, die grunzend ihre Schnauzen durch die Gitter der Koben reckten.
    Jetzt waren sie alle verschwunden. Der Hof stand leer. Ausnahmslos jede Fensterscheibe an der Vorderfront der Gebäude war zerschmettert worden.
    Nicht von uns. Denn wie sagte Hilko immer: „Der Bär kackt nicht in den eigenen Wald.“ Oder so ähnlich.
    Am meisten reizte uns der riesige, quadratische Raum über den Ställen. Jetzt, nach der Ernte. lagerte dort der Bauer Grote vom Ende der Sackgasse sein Stroh. Die gelben Ballen türmten sich bis unter die hohe Decke. Für uns wurden sie zu übergroßen Bauklötzen. Man konnte aus ihnen Mauern und Türme, sogar ganze Burgen bauen. Wir erstürmten Schutzwälle, kugelten Abhänge aus stacheligem Heu herab, bis wir trockenen Staub husteten.
    Das Ganze war nicht ohne Risiko. Zum Einen versteckten sich unter den Grannen und Halmen quadratische Öffnungen, richtige Fallgruben. Wer dort hinunter fiel, konnte sich leicht ein paar Knochen brechen. Zum anderen tauchten gelegentlich Bauer Grote oder einer seiner Knechte auf. Wenn überraschend ein Schädel mit braunem Kordhut auf der Treppe zum Heuboden erschien, stoben wir auseinander, sprangen durch die Fallgruben nach unten oder flüchteten durch die zerschlagene Fensterfront. Direkt dahinter lag ein Flachbau. Das Dach mit Teerpappe federte unter unserem Aufprall wie die Sprungbretter im Sportunterricht, wir landeten auf dem Acker und rannten. Der Bauer stand im Fenster des Heubodens, sah, wie wir über den braunen Lehm rannten und brüllte wüste Drohungen. Er verfolgte uns nie.
    „Wartet!“ Markus duckte sich unter den Birkenzweigen und kroch durch die Büsche, die den Hof vom Feldweg abschirm-ten. Er liebte es, bei solchen Aktionen der Erste zu sein. Nach einer Minute kehrte unser selbsternannter Scout zurück. „Die Luft ist rein“, verkündete Markus wichtig.
    In einiger Entfernung startete ein Trecker, kam nicht näher, sondern fuhr in entgegengesetzter Richtung davon.
    Wir krochen durch die Büsche. Ein Zweig peitschte mir ins Gesicht. Der jähe Schmerz war nicht so schlimm wie das Gefühl in meinem Bauch. Jedes Mal, wenn ich den verlassenen Hof betrat, verwandelte sich mein Magen in der ersten Zeit in einen Fremdkörper, der wie eine bleierne Murmel in der Mitte meines Körpers hockte. Es war die Furcht, erwischt zu werden. Sie trocknete meine Kehle aus und ich räusperte mich ständig, damit es den anderen nicht auffiel. Ich fragte mich, ob sie ähnlich empfanden. Zumindest Leo und Töffel. Markus und Hilko schienen sich keine Gedanken darüber zu machen. Freiwillig setzten sie sich der Gefahr aus, rannten stets als letzte davon, balancierten auf den rutschigen und lockeren Schindeln des Dachs oder schlugen beim gegenseitigen Kräftemessen mit hölzernen Stöcken wild auf sich ein. Zu wild, wie ich fand. Es war erstaunlich, dass sie noch beide Augen besaßen.
    Das heißt, es gab da einen Ort, vor dem auch sie sich fürchteten. Hier auf Hausfriedensbruch. Wenn sie ihre Angst auch immer mit flapsigen Bemerkungen zu verbergen suchten.
    Ausgerechnet dieser Ort sollte sehr bald unser Leben verändern.

    Die Heuballen füllten fast zwei Drittel des Raumes aus.
    Das Sonnenlicht
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