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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde
Autoren: Stefan Casta
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Kopf gehen, wenn man nervös ist.
    »Es ist lange her, Kim«, sagst du.
    Und ich weiß, dass wir beide in diesem Augenblick alles noch einmal Revue passieren lassen. Alles, was zu erzählen eine Ewigkeit dauern würde, wenn ich es in meine eigenen Worte fassen sollte. Alles, was geschehen ist, alles, was nicht geschehen ist.
    Und wenn du das hier lesen willst, dann bitte ich dich um Nachsicht mit meiner Art zu berichten. Ich habe das Gefühl, als müsste ich mich dem Geschehen erst wieder annähern. Mich mir annähern, auf meine eigene Art und Weise.
    Ich versuche eine Erklärung zu finden. Ich stelle Fragen. Ich habe so viele Fragen! (Ja, es gibt auch ein Polizeiprotokoll, aber in dem steht ja, wie du weißt, nicht alles drin.)
    »Wolltest du nichts kaufen?«, frage ich, als wir gerade durch die elektronische Schranke gehen, denn ich erinnere mich, dass du den Lidschatten genommen hast, den du deiner Oma mitbringen wolltest.
    Aber du schüttelst den Kopf!
    Ich erinnere mich so deutlich daran, Tove, wie du den Kopf geschüttelt hast, als wäre es geplant und eingeübt. Dann mache ich diesen kleinen Fehler, ich bleibe stehen, zögere, denn ich überlege, wohin du wohl willst, wohin wir wollen, aber ich weiß nicht, ob du das bemerkst, denn du gehst einfach weiter, drehst nur den Kopf und sagst: »Pass auf dich auf, Kimmi.«
    Und ich bleibe stehen, wie ein Idiot. Sehe dich verschwinden! Noch einmal!
    Der erste Ausflug Wir haben Rückenwind, und ich spüre den eiskalten Wind, wie er in die Ohrläppchen zwickt, wenn er uns umweht. Wir treten schweigend und zielbewusst, rollen einen langen Hang hinunter, wie Windsurfer, beißen die Zähne zusammen und kämpfen uns den nächsten hinauf. Philip natürlich als Erster, dann Manny, immer Manny hinter Philip, ich lerne schnell, wie es sein soll, anschließend Criz und Tove und dann also ich, und ein Stück hinter mir: Na-Maria mit dem Busen. Eigentlich wäre ich lieber Letzter gewesen, denn dann ist es leichter, die Kontrolle über seine Bewegungen zu haben. Ich muss die ganze Zeit bewusst daran denken. Ich denke: Fahrrad. Ich denke: rechter Fuß, ich denke: linker Fuß. Ich denke: beide Hände auf den Lenker. Das stört mich nicht mehr. Aber ich darf nicht vergessen daran zu denken, was ich tue. Die ganze Zeit muss ich daran denken.
    Es war noch dunkel, als wir aus der Stadt losfuhren. Es schien, als wären wir die Einzigen, die schon wach waren, die einzigen Überlebenden, als wir durch die menschen- leeren, dunklen Straßen rollten. Jetzt wird es schnell heller. Teile der Felder, Hügel und Bauernhöfe treten langsam aus dem unscharfen Dämmerlicht hervor. Bald werden wir die ganze Landschaft sehen können, bald gibt es die Welt wieder.
    »Die Sonne kommt heute noch durch«, sagt Toves Stimme.
    »Glaubst du wirklich?«
    Sie kommt nicht dazu zu antworten.
    »Bussarde!«, schreit Philip.
    Die Fahrradkarawane kommt ins Schwanken, als alle gleichzeitig zu den beiden großen Raubvögeln hinaufspähen, die über dem Feld kreisen. Tove wendet sich mir zu. Sie ruft mit eifriger Stimme:
    »Siehst du sie?«
    Ich nicke. Denke: Fahrrad. Rechter Fuß, linker Fuß. Konzentriere mich tausend Jahre lang. Sehe zu den beiden grauen Raubvögeln auf, die mit müden Bewegungen in dem spärlichen Licht fliegen. Sage kurz: »Echt schön!«
    Der Wind reißt mir die Worte weg. Philip lacht laut auf, als sie ihn erreichen. Er nickt mir aufmunternd zu.
    Toves blondes Haar ist nach vorn geweht worden. Sie trägt eine taubenblaue Steppjacke, Jeans und braune Stiefel. Sie hat eine kreisrunde Brille, die ihre magischen Augen noch vergrößert.
    Tove, my love! Du hast etwas an dir. Ich brauche nur hinter dir zu radeln, um das zu spüren. Ich werde von dir angezogen, von deinen scheuen Brüsten, die klein sind wie Vogeljunge.
    Ein Bus fährt an uns vorbei, und der Fahrtwind bringt uns ins Schwanken. Toves Gesicht dreht sich schnell um, ihre Augen scheinen nur kurz zu blinzeln, um zu überprüfen, ob ich auch noch da bin.
    Dreh dich noch einmal um, denke ich.
    Eine Lerche singt über den Feldern. Die Töne rieseln auf uns herab. Tove dreht sich wieder um, will sehen, ob ich es auch gehört habe. Ich nicke. Denke: Radfahren. Denke: Lenken. Denke: rechter Fuß, linker Fuß. Tausend Jahre vergehen:
    »Eine Lerche, nicht wahr?«, sage ich.
    »Bravo!«, singt Tove.
    Lerchen erkenne ich. Das ist einfach. Die braucht man nur einmal zu hören. Die sind so ausdauernd. Singen immer weiter, wie Kristins Radio in der
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