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Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde
Autoren: Stefan Casta
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Spiegelfläche verließ und wirklich wurde, als es sich mir näherte, da hatte ich das Gefühl, alles würde wieder von vorn anfangen. Und das würde die ganze Zeit so sein.
    Ich hebe die rechte Hand, winke Tove zu. Die anderen bemerken das, richten ihren Blick auf mein Haus, sehen zu mir auf. Du sagst ihnen etwas. Wieder winke ich, winke zu ihnen hinunter.
    Philip hebt die Hand. Und als er das tut, fliegen die Elstern aus den Linden vor dem Seven auf. Sie krächzen laut. Philip hält inne, wirft den Elstern einen Blick zu, krächzt ihnen zu, winkt mit beiden Armen.
    Wir alle schauen den Elstern zu, folgen ihnen mit unserem Blick, während sie durch das Luftmeer über den Astrakanvägen rudern.
    Und als sie fort sind, gibt es nur noch uns. Nur noch Philip und Manny, PM, Criz und Tove, mich. Ohne Vögel sind wir nackt, sind wir nichts.
    Kann ich ihnen verzeihen?
    Ich weiß es nicht. Ich nehme an, dass es so sein muss. Ja, ich glaube, dass ich das wohl tun muss. Schon um meiner selbst willen. Damit ich weiter vorwärts gehen kann. So muss es kommen. Versöhnung, das ist der einzige Weg, der vorwärts zeigt. Alle anderen Wege sind Sackgassen.
    Aber derjenige, der etwas getan hat, muss dafür geradestehen. Ein Verbrechen muss bestraft werden. Wie soll es sonst weitergehen? Was wird sonst aus der Welt? Ich glaube, ich weiß es. Ich glaube, das ist fast das Einzige, was ich wirklich weiß. Ich glaube, ich habe in die Zukunft sehen können. Und die sieht nicht besonders rosig aus.
    Morgen werdet ihr einen Brief bekommen. Es steht nicht viel in ihm. Es sind nicht viele Worte übrig geblieben, es gab so viel, was weggestrichen werden musste, was das Feuer fraß. Was geblieben ist, das sind in erster Linie Fragen. Ja, es stimmt, Tove, ich denke zu viel. Ich habe so viele Fragen.
    Eine Sache, die nicht im Brief steht (und die auch nicht besonders wichtig ist): Ich habe die Baskenmütze nicht getragen, um mich wichtig zu machen. Wenn Leute dir auf den Kopf spucken, dann ist es gut, etwas auf dem Kopf zu haben. So fing das an. Ich nahm mir eine von Jim. Und inzwischen trage ich sie, weil es mir gefällt. Und weil ich wie er bin.
    In den Filmen, die wir bei PM gesehen haben, gab es immer ein Ende. Die meisten Filme handelten davon, sich zu rächen. Und wenn man das erledigt hatte, wenn man seine Rache bekommen hatte, dann war es zu Ende. Aber im Leben ist das nicht so. Da geht es immer weiter. Es gibt keinen offensichtlichen Schluss. Das ist nur ein endloser Strom an Zeit, an Licht und Dunkelheit und Energie, und wir leben mitten in diesem Strom, und er ist es, den du auf deinem Gesicht spürst, wenn es draußen weht.
    Ich kämpfe gegen den Wind an, und ich fühle ihn jetzt auf meinem Gesicht, und ich weiß, dass ich lebe.
    Dieses letzte Jahr ist ein einziges Durcheinander. Es besteht nur aus einer Unmenge von Bildern, die sich im Kreise drehen, wie kleine, funkelnde Scherben eines zerbrochenen Spiegels.
    Ich kämpfe damit, alle Teile wieder zusammensetzen zu können.
    Ich versuche alles zu erzählen, Wort für Wort, so, wie es meiner Meinung nach gewesen ist.
    Ich wünschte, du könntest es hören, Philip: »Ich versuche darüber zu schreiben, über uns.«
    Und wenn die Geschichte fertig ist, dann soll mein Name darunter stehen. Und vielleicht die anderen Angaben auch, die in meinen Papieren stehen: Kim Nguyen, geb. in Son Hoa in der Provinz Ouang Ngai, Vietnam. Adoptiert von Jim Cohen und Kristin Nilsson im Alter von 11 Monaten.
    Am Abend essen wir Nudeln mit Pilzen.
    Kristin trinkt ein Glas Rotwein. Sie schlägt vor, dass wir in den Herbstferien irgendwohin fahren. Nach Dänemark? Ja, vielleicht, meinen Jim und ich. Wir nicken einander zu. Wieder nach Dänemark? Ja, warum nicht. Wir sind dabei, Kristin!
    Als es schließlich an der Tür klingelt, zucke ich zusammen. Obwohl ich es erwartet habe. Obwohl ich es wusste. Jim geht die wenigen Schritte zur Tür, öffnet, redet eine Weile mit jemandem, nickt in meine Richtung. »Für dich«, sagt er. »Sie will nicht reinkommen.« Und ich höre an seiner Stimme und sehe an seinen Augen, dass es diesmal nicht Criz ist. Und ich mache ein paar zögernde Schritte durch die Küche, hinaus auf die Treppe und sehe dich dort in dem Schein unserer hässlichen Außenlampe stehen. Ich gehe zu dir. Lege die Arme um dich. Du drückst deinen Körper fest an meinen.
ENDE
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