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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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dürfen nach der regulären Schulzeit keine Ausbildung beginnen oder arbeiten. Und alle 12 Monate werden die Familien schriftlich daran erinnert, dass sie jederzeit abgeholt werden können, selbst wenn sie schon seit 20 Jahren in Deutschland leben.
    Die Auffälligkeiten der Kinder wurden, so Oelrich, ganz wesentlich durch die spezifischen Lebensumstände mit beeinflusst: 86 Prozent der Kinder gaben an, nicht in ihr Heimatland zurückkehren zu wollen und 88 Prozent erklärten, Angst vor einer Abschiebung zu haben. Die Anzahl und das Ausmaß der Auffälligkeiten stiegen mit zunehmender Duldungsdauer. Wie hoch der Leidensdruck bei vielen Kindern und Jugendlichen angesichts der unsicheren Aufenthaltssituation war, zeigten auch ihre Antworten auf Oelrichs Frage, welche Wünsche ihnen denn eine gute Fee erfüllen solle: 31 Prozent der Kinder wünschten sich an erster Stelle einen deutschen Pass.

    Wir sind eine Nation von Kriegskindern – und haben doch anscheinend aus unserer Geschichte nichts gelernt. Dabei liegt es an uns, diesen Kindern zu helfen. „Flüchtlingskinder brauchen in erster Linie Schutz, und den müssen wir als reiches Land auch bieten“, erklärt der Psychiater Hubertus Adam, Leiter der psychiatrischen Ambulanz für Flüchtlingskinder und ihre Familien am Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) in Hamburg. „Die Lebensumstände im Exilland sind ausschlaggebend für eine Stabilisierung oder Chronifizierung des Traumas: Haben die Kinder ständig Angst vor einer erneuten Abschiebung, hat eine Behandlung nur geringe Erfolgsaussichten. Wir können nicht zulassen, dass sich die Ausländerbehörden und Gesundheitsbehörden dieser Verantwortung entziehen.“
    In der Flüchtlingsambulanz versuchen die Therapeuten vor allem, die Kinder zu stabilisieren: Sie bauen Vertrauen zu den jungen Patienten auf, schauen, wo die Ressourcen der Kinder liegen und arbeiten mit den Eltern an einem „Behandlungsbündnis“. Das ist nicht immer einfach, denn aufgrund der kulturellen Unterschiede können viele Missverständnisse entstehen. Die Ärzte und Therapeuten müssen sich Stück für Stück zu den traumatischen Ereignissen vortasten und das Erlebte spielerisch durcharbeiten. Doch nur die wenigsten Flüchtlingskinder bekommendie Möglichkeit, ihre Erlebnisse in einer psychotherapeutischen Behandlung zu bearbeiten. In weiten Teilen Deutschlands haben Flüchtlingskinder kaum Zugang zu therapeutischen Einrichtungen – vor allem, wenn sie in Sammelunterkünften auf dem Land wohnen.

    Auch Kinder der zweiten oder dritten Generation bezeichnet der Psychiater Hubertus Adam noch als „Flüchtlingskinder“ – denn auch sie sind lebenslang vom Schicksal ihrer Eltern geprägt. Oft müssen traumatische Erfahrungen der Familie verdrängt werden, damit die einzelnen Familienmitglieder im Exil handlungsfähig bleiben. Dann sind die Kinder die Symptomträger und leiden an Anpassungsstörungen, Somatisierungen, Depressionen. Die Familiengeschichte bleibt ein Tabuthema, doch die Kinder haben gleichzeitig das Gefühl, sich um die Eltern kümmern zu müssen. „Oft leiden sie unter der Rolle als ‚Hoffnungsträger‘ der Familien“, erklärt Adam. „Viele entwickeln auch Schuldgefühle, weil sie glauben, dass sie den unausgesprochenen Rückkehrwunsch der Eltern in die Heimat verhindern.“ Und immer wieder begegnet der Psychiater in seiner Arbeit mit den Familien einem Grundkonflikt: darüber, ob die Exilanten es zulassen können, sich in die fremde Gesellschaft zu integrieren oder nicht. Den Kindern fällt es schwer, diese Ambivalenz in ihrem Alltag auszuhalten. Die Psychiater und Psychologen am UKE beziehen sich in ihrer Arbeit mit Flüchtlingskindern vor allem auf die transgenerationalen Forschungen über Holocaust-Überlebende. „Aus der Erfahrung des Holocaust und des Kriegs in Deutschland haben wir gelernt, dass ehemals verfolgte Flüchtlingsgruppen manchmal über Generationen Folge- und Anpassungssymptome zeigen“, erklärt Hubertus Adam. „Es gibt eine Transgenerationalität von psychischen Traumata. Die zweite Generation kann also, auch wenn sie nicht direkt von den Traumata betroffen war, psychische Störungen zeigen.“ Wie eben auch die Kinder der deutschen Kriegskinder.Der elfjährige Milan ist so ein Fall. Der Junge nimmt an der kunsttherapeutischen Gruppe für Flüchtlingskinder am UKE teil und wirkt auf den ersten Blick ganz ausgeglichen und fröhlich. Er ist vertieft in sein Bild, eine bunte Collage. Hin und wieder
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