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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Schamgefühle und auch das noch nicht ausgebildete Langzeitgedächtnis der besonders jungen Kriegskinder verhinderten eine konkrete Beschäftigung mit dem Erlittenen.

    Als ich mit Mitte 20 eine Psychoanalyse begann, setzten bei mir wiederkehrende Träume mit immer gleichen Inhalten ein: Ich träumte von zerbombten Städten und brennenden Ruinen, von fünfköpfigen Familien, die inmitten der Trümmer saßen und am ganzen Körper Kriegsverletzungen aufwiesen. Und ich entwickelte eine Obsession: Als Journalistin begann ich, über die Schicksale in Deutschland lebender Flüchtlingskinder zu arbeiten, wieder und wieder, bis ich kaum noch in der Lage war, andere Aufträge anzunehmen. Meine unablässigen Versuche, Anerkennung für die Leidenserfahrungen der Kinder aus Afghanistan oder Serbien zu erlangen, brannten mich aus. Zu verstehen begann ich erst ein paar Jahre später. Die Debatte um das Leid der deutschen Bevölkerung während des Krieges und die Erfahrungen der Kriegskinder ließen mich auch über die Geschichte meiner Eltern nachdenken. Wenige Tage nach Kriegsende geboren, waren auch ihre Kindheiten von Hunger, Armut, Zukunftsängsten undUnsicherheit geprägt. Hinzu kam in der Familie meiner Mutter kurz vor dem Mauerbau noch eine traumatische Flucht von Ostnach Westdeutschland mit monatelangen Aufenthalten in Flüchtlingslagern und anschließendem mühsamen Neuanfang in der Nachkriegs-BRD. Erst in meiner Analyse begann ich zu spüren, welch materielle und emotionale Entbehrungen meine Eltern hatten hinnehmen müssen – und wie sich diese wiederum auf uns drei Kinder ausgewirkt hatten. Hinter der emotionalen Unerreichbarkeit meiner Eltern, hinter ihrem unbedingten Leistungswillen und ihrer offensichtlichen Stärke verbargen sich Ängste und Bedürftigkeit. Wir Kinder hatten eine Menge davon auffangen müssen – obwohl wir doch selbst stets gefordert waren zu funktionieren. In der Psychotherapie lernte ich, meine eigenen Gefühle besser spüren und mitteilen zu können. Erst als ich begann, mich bewusst mit der Geschichte meiner Eltern, speziell der meiner Mutter, auseinanderzusetzen, ließ der innere Zwang nach, mich mit den Schicksalen der in Deutschand lebenden Flüchtlingskinder zu beschäftigen.
    Die Kriegsverletzungen, die mir im Traum so deutlich erschienen waren, hatten bei meinen Eltern und auch bei uns Kindern deutliche Spuren hinterlassen.

    Inzwischen weiß ich, dass es auch anderen Kindern von Kriegskindern so geht. Ich begann zu recherchieren und stellte schnell fest, dass auch andere Männer und Frauen der „dritten Generation“, geboren etwa zwischen 1955 und 1975, geprägt sind von den kindlichen Kriegserfahrungen ihrer Eltern. Auch sie haben Gefühle übernommen, Ängste geerbt, Rollen eingenommen, die in Bezug stehen zu den Kriegserlebnissen ihrer Eltern. „Die Eltern zu erlösen, das war meine Aufgabe“, erklärt einer meiner Gesprächspartner.
    Wir sind eine Generation, deren Lebensgefühl geprägt ist von emotionalen Erfahrungen, die gut 60 Jahre zurückreichen: die Heimatlosigkeit, das Gefühl, sich nirgends verwurzeln zukönnen, die eingeimpfte Existenzangst, Bindungsschwierigkeiten, Identitätsverwirrungen und vor allem das Gefühl, bei den Eltern etwas wieder gutmachen zu müssen ... all das sind oft Folgen der elterlichen Kriegs-, Flucht- und Vertreibungserfahrung.
    Doch mehr als alles andere hat uns wohl die emotionale Sprachlosigkeit in unseren Familien geprägt. In der emotionalen Fremdheit zwischen den Generationen erkennen die Psychoanalytiker Hartmut Radebold und Werner Bohleber einen der wichtigsten Gründe dafür, dass heute so viele Kinder von Kriegskindern in Psychotherapie sind:
    „Die Kinder der Kriegskinder repräsentieren mittlerweile die dritte ( jetzt indirekt) kriegsbetroffene Generation. Viele von ihnen befinden sich zurzeit in psychotherapeutischer Behandlung. Sie vermitteln inzwischen zunehmend deutlicher, welche Folgen diese – ihnen allerdings oft unbekannte – Kriegskindheit ihrer Eltern hatte und noch hat.“ (Radebold / Bohleber / Zinnecker: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten). Insbesondere der Widerspruch zwischen materieller Verwöhnung und psychischem Desinteresse der Eltern sei für die Kinder belastend, schreiben die Autoren.

    In diesem Buch möchte ich anhand einer Reihe von – namentlich anonymisierten – Lebensgeschichten zeigen, auf welch unterschiedliche Art und Weise die Kriegserfahrungen der Eltern noch heute im Leben
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