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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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einem kleinen Kiefernwäldchen. Stundenlang sitzt mein Opa dort auf einem Hocker, raucht Zigarillos und beobachtet seine Bienen. Schon als Kind frage ich mich oft, worüber genau der schweigsame Mann die ganze Zeit nachdenkt.
    Nachdem meine Großeltern uns zu Hause abgeliefert haben, summen mein Bruder und ich die Lieder, die wir während der Autofahrt gesungen hatten, noch weiter: „Schwarz-braun ist die Haselnuss“ und „Heho, spannt den Wagen an“ sind unsere Favoriten. Als meine Mutter uns hört, bringt sie uns sofort zum Schweigen. „Singt das nie wieder!“, weist sie uns an und murmelt dann kopfschüttelnd. „Dass Mutti immer noch ihre Lieder aus dem Arbeitsdienst singen muss.“ Mein Bruder und ich haben dasGefühl, uns für etwas schämen zu müssen – nur wofür, das wissen wir nicht genau. Erst ein halbes Jahrhundert später begreife ich, dass für meine Großeltern in den Kriegsjahren, den Jahren ihrer Jugend, der wohl schönste und gleichzeitig auch fürchterlichste Abschnitt ihres Lebens stattfand. Beim Auflösen ihrer Wohnung finde ich Tagebücher, Fotoalben, Ahnenpässe, Verwundetenabzeichen und Soldbuch-Auszüge aus NS-Zeiten, sorgfältig in Ordnern archiviert. Von der Zeit „unter Adolf“, wie sie oft sagten, hatten sie sich offensichtlich nie ganz verabschiedet.

    Mein Großvater, 1918 in Mecklenburg geboren, hatte 14 Jahre lang Tagebuch geführt, von 1928 bis 1943. Seine Einträge reichen von seinen Sommer- und Winterlagerfahrten mit verschiedenen nationalen Jugendgruppen als zehnjähriger Knirps bis hin zu seinen Luftwaffeneinsätzen in Russland und Rumänien im Jahr 1943 und dokumentieren eindrucksvoll, wie die nationalsozialistischen Jugendorganisationen ihre jungen Mitglieder zu prägen vermochten. Im Tagebuch meines halbwüchsigen Großvaters dominieren eingeklebte Schwarz-Weiß-Drucke, die Jungen in kämpferischen Positionen zeigen, darunter handschriftlich sorgfältig kopierte Zeilen wie „Weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein“. Ab 1938 finden sich auch Hakenkreuze in seinem Tagebuch, parallel zu seinem beginnenden Landdienst in Mecklenburg, während dessen er inbrünstig hofft, endlich zur Wehrmacht einberufen zu werden: „Nun muss die Entscheidung fallen“, schreibt er 1939. „Nach unserem vergeblichen Harren, nach Ostpreußen oder nach Oberschlesien zu kommen, muss jetzt eine Klärung kommen.“ Kurze Zeit später wird er zur 22. Staffel des Flieger-Ausbildungsregiments in Güstrow einberufen. Zeilen über Zeilen von nationalsozialistischen Gedichten und Liedertexten dokumentieren diesen neuen Lebensschritt. In den kommenden drei Jahren führt ihn seine Position als Mechaniker der Transportstaffel des IV. Fliegerkorps monatelang nach Brüssel und Paris. Diese Jahre scheinen für ihn voller Abenteuer zu sein:Sauftouren mit seinen Kumpels und humorvolle Beschreibungen des Fliegeralltags dominieren seine Erinnerungen. Kein kritischer, besorgter Gedanke findet Eintrag in sein Tagebuch – oder vielleicht behält er solcherart Reflexionen lieber für sich? Andere Aufzeichnungen scheinen dagegen zu sprechen. Als er in Brüssel beobachtet, wie die Bevölkerung angesichts der deutschen Besatzer panisch die Stadt verlässt, schlussfolgert er: „Noch immer strömen Flüchtlinge durch die Straßen. Oh, welch ein Elend. Wieder hat die Bevölkerung der feindlichen Propaganda das Wort Barbaren geglaubt.“ Auch während seines einjährigen Dienstes in Paris von Juni 1940 bis Juni 1941, „der schönsten Stadt der Welt“, findet mein mittlerweile 23-jähriger Großvater nichts dabei, einer aggressiven Besatzungsmacht anzugehören. Wie ein Tourist zieht er mit seinen Kameraden durch die Straßen der Stadt, bewundert die Architektur, kehrt in Kneipen und Restaurants ein, besucht Kinos, das Theater oder die Oper. „An uns zieht das Leben der Franzosen vorbei“, schreibt er. „Wie viel Spaß macht es uns, in diesen Zeiten uns hier zu tummeln.“ Vom Leiden der Zivilbevölkerung, den Judenverfolgungen, der Willkür und Gewalt der deutschen Besatzer – kein Wort. Er ist überzeugt von seiner Mission: „Oft wird mir das Herz groß, wenn wir über die Schlachtfelder von 1914 –1918 fliegen“, schreibt er 1941. „Dieser Krieg hat alles wieder gut gemacht. Zur Heimat könnte uns dieses Land nie werden, es fehlen die Seen und Wälder. Der Atlantik dagegen ist anders.“
    Nach Paris werden die Einträge sporadischer, für meinen Großvater geht es weiter nach Rumänien und wenig
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