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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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ihrer Kinder Gestalt annehmen. Meine Gesprächspartner, alle zwischen 1955 und 1975 geboren, berichten von ihrem Bemühen nach Abgrenzung zur Geschichte der Eltern und der Suche nach der eigenen Identität. Sie beschreiben ein Gefühl der Wurzellosigkeit, das in Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien mitunter bis in die dritte Generation wirkt und auch bei ihnen eine Identifikation mit der neuen Heimat im Westen verhinderte. Sie schildern ihr Bemühen, ein Leben zu führen, das für die von Verlust geprägten Eltern möglichst wenig belastend ist, aber gleichzeitig ihrem Bedürfnis nachSelbstverwirklichung entgegenwirkt. Sie berichten von der emotionalen Unerreichbarkeit der Eltern und erklären, wie sie erst nachträglich lernten, die eigenen Gefühle wahrnehmen und mitteilen zu können. Auch die Folgen sexueller Übergriffe während Flucht und Vertreibung sind ein Thema – meine Gesprächspartnerinnen erzählen, wie die Erlebnisse der Eltern und deren Einstellung zu Sexualität allgemein noch das Beziehungsleben ihrer Kinder prägten. Und sie sprechen darüber, welche Kreise die Verstrickung eigener Familienmitglieder in die Taten der Nationalsozialisten noch bei den kommenden Generationen zog.

    Es ist mir wichtig zu betonen, dass es in diesem Buch nicht um Schuldzuweisung oder Anklage der Kriegskindergeneration geht, sondern um ein tieferes Verständnis der Erfahrungen und Verhaltensweisen unserer Eltern – und gleichzeitig um ein besseres Verständnis für die eigene Lebensgeschichte. Denn wenn es uns gelingt, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte zu führen und so die eigenen Prägungen zu erkennen, dann müssen wir sie nicht an unsere Kinder weiterreichen. Schließlich wären die Enkelkinder der Kriegskinder dann nämlich bereits die vierte indirekt kriegsbetroffene Generation. Schon vor den Kindern der Kriegskinder (ca. 1955–1975) und den Kriegskindern (ca. 1927–1947) gab es eine kriegsbetroffene Generation: Die Eltern der Kriegskinder, selbst Kriegskinder des Ersten Weltkrieges (1914 –1918). Auch sie waren möglicherweise bereits geprägt von kindlichen Verlust-, Trauer- und Mangelerfahrungen, die ihrerseits Schatten auf die kommenden Generationen geworfen haben mögen. Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden.
    Heute, nach gut 60 Jahren Frieden, können wir uns daranmachen, die seelischen Folgen der Kriegsjahre aufzuarbeiten. Genug Zeit ist verstrichen, um frei von ideologischen Debatten einen Blick auf das eigene erlittene Leid und dessen Bedeutung auch für die nachfolgenden Generationen zu werfen. Vielleicht können wir so auch den „Graben zwischen den Generationen“,den viele meiner Gesprächspartner so deutlich spüren, besser verstehen. Es ist mein Wunsch, dass dieses Buch dazu beiträgt, einen Dialog zwischen den Kriegskindern und ihren Kindern in Gang zu setzen. Besser früher als später, denn viel Zeit bleibt unter Umständen nicht mehr: Die ältesten Kriegskinder haben die 80 bereits überschritten. Es lohnt sich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn bevor wir uns versöhnen können, müssen wir einander erst verstehen lernen.
    den viele meiner Gesprächspartner so deutlich spüren, besser verstehen. Es ist mein Wunsch, dass dieses Buch dazu beiträgt, einen Dialog zwischen den Kriegskindern und ihren Kindern in Gang zu setzen. Besser früher als später, denn viel Zeit bleibt unter Umständen nicht mehr: Die ältesten Kriegskinder haben die 80 bereits überschritten. Es lohnt sich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn bevor wir uns versöhnen können, müssen wir einander erst verstehen lernen.

1. Die Kriegskinder
Starke Eltern, schwache Eltern
Das „Tosen des Krieges“
    Die Sonne scheint, fröhlich singend sitzen mein Bruder und ich auf dem Rücksitz des Opel Kadett meiner Großeltern. Wie so oft haben wir gemeinsam ein Wochenende auf dem Land verbracht, in einem kleinen Holzhäuschen am Rande eines Rapsfeldes in der Nähe von Bad Segeberg. Schon seit Jahren genießen meine Großeltern dort ihre freien Tage, oft mit meiner Uroma im Schlepptau, und entfliehen so der Enge ihrer Hamburger Stadtwohnung. Wir lieben diese Wochenenden in der Natur. Hinter dem Häuschen baut meine Großmutter Kartoffeln, Karotten und Salat an, und nichts begeistert uns Kinder mehr, als ihr zu helfen, das Gemüse zu ernten und es anschließend gemeinsam zu essen. Am Ende des Grundstücks, zur kleinen Landstraße hin, dann das Revier meines Großvaters: Zwei Bienenstöcke in
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