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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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später nach Russland. Manchmal klingen vorsichtige Klagen über die bittere Kälte im Osten an, über Ratten in den Zelten und Verluste unter den Kameraden. Im Jahr 1943 enden die Tagebucheinträge mit dem Gedicht: „Niemand weiß, wie lange das Tosen dieses Krieges noch dauern wird / Drum will ich den Sang beschließen / Niemand wird heut schon wissen, was die Zukunft gebiert / Aber: Trotzdem blühen Rosen.“
    Aus seinem Soldbuch geht hervor, dass er in den kommenden zwei Jahren an drei Gefechten teilnimmt und in der rechten Brust durch einen Granatsplitter verwundet wird – doch er hat Glück, der Großteil des Splitters bleibt in einem Fotobüchlein mit Familienbildern stecken, welches er stets in seiner rechten Brusttasche aufbewahrt. Seine letzten Kriegsstationen sind das Lazarett Bad Bramstedt und Elmendorf im Ammerland, wo er an aussichtslosen Kämpfen gegen die Alliierten teilnimmt. Im Mai 1945 wird er von den Briten verhaftet und als Kriegsgefangener zum Arbeitsdienst auf einem Hof in der Nähe von Stade verurteilt.

    Wie mag es meinem Großvater ergangen sein, als er im Februar 1946 endlich nach Schwerin zurückkehrte? Vermutlich war er froh, den Krieg überlebt zu haben. Wie seine Heimatstadt mag aber auch sein Weltbild in Trümmern gelegen haben. Er kam zurück als Besiegter – und blühende Rosen waren nirgends zu sehen. Stattdessen seine junge Frau Käthelies mit seiner Erstgeborenen auf dem Arm, meiner Mutter Annegret, die am 21. Mai 1945 zur Welt kam und ein dünnes Baby war. Auch meiner Großmutter, 1922 geboren, wird es in dieser Zeit vermutlich nicht besonders gut gegangen sein. Abgesehen von den existenziellen Nöten der Nachkriegszeit im besetzten Schwerin, dem als traumatisch erlebten Einmarsch der Russen und dem langen Bangen um ihren Mann, von dem sie seit Kriegsende kein Wort gehört hatte, war es vermutlich auch für sie nicht leicht, zu den Besiegten zu gehören. Sie hatte im BDM als Jungführerin mit Begeisterung in diversen Ernte- und Arbeitsdienstlagern gedient. Ein Fotoalbum belegt diese Zeit: Meine junge Großmutter beim Kartoffelsammeln, beim Heuernten und bei Sommerfesten, uniformiert, meist gut gelaunt inmitten einer Schar gleichaltriger Mädchen. Im Hintergrund fast immer: Die Hakenkreuzflagge. Wie eine ausgedehnte, fröhliche Klassenfahrt wirken die Bilder dieser Jahre auf mich. Vom Grauen des Nationalsozialismus keine Spur. Doch auch dieses Album endet im Jahr 1943. Danach: Nichts mehr.
Im Krieg geboren
    Als das „Reich“ in Trümmern lag, war mein Großvater 27 und meine Großmutter 23 Jahre alt. Wie mag es in ihnen ausgesehen haben? Waren sie erschüttert vom Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, von der Enttarnung der Helden ihrer Jugend als millionenfache Kriegsverbrecher? Oder waren sie einfach nur froh, überlebt zu haben?
    Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks beschreibt in seinem Buch Warum folgten sie Hitler? den Nationalsozialismus als kollektiven Rauschzustand, der eine suchtartige Abhängigkeit auf seine Anhänger ausübte – und erklärt so das „schwarze Loch“, in das viele „Berauschte“ nach der Niederlage fielen.
    Ob auch meine Großeltern in so ein „schwarzes Loch“ fielen, werde ich nie erfahren – inzwischen sind beide verstorben. Sicher ist jedoch, dass für sie eine mühsame Zeit der Neuorientierung begann. Mein Großvater besuchte eine Lehrerfortbildung und erhielt Ende 1946 eine Anstellung an einer Dorfschule in der Nähe von Schwerin. Bezahlt wurde er überwiegend in Naturalien, so dass die Familie zumindest keinen Hunger leiden musste. Nutzten meine Großeltern aber die langsam einkehrende Ruhe, um sich kritisch mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wenn wir ihren nostalgischen Erzählungen über die Zeit „unter Adolf“ glauben schenken dürfen, dann taten sie dies weder zu diesem Zeitpunkt noch später.
    Der 1928 geborene Journalist Heinrich Jaenecke beschreibt die so genannte Stunde Null nach Kriegsende als „den großen Schlussstrich, den die Mehrheit der Deutschen unter das Kapitel Hitler zog – eine Amputation des Bewusstseins, die die ‚Vergangenheit‘, wie die Umschreibung für das ‚Dritte Reich‘ lautete, aus dem Gedächtnis löschte. Man glaubte, sie damit los zu sein wie ein krankes Glied, das der Chirurg entsorgt“ ( Jaenicke: „Die Stunde Null“, in: GEO EPOCHE, Nr. 9). Die PsychoanalytikerAlexander und Margarete Mitscherlich widmeten sich diesem Phänomen in ihrem Buch Die
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