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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Unfähigkeit zu trauern und beschrieben, wie es den Deutschen nach dem Krieg weder gelang, um das Leid ihrer Millionen Opfer noch um die eigenen Schmerzen und Verlusterfahrungen zu trauern. Diese doppelte Unfähigkeit zu trauern führte sogar zu „einer Panzerung gegen Gefühle überhaupt“, glaubt der Bremer Psychoanalytiker und Publizist Hans-Jürgen Wirth (Wirth: Kriegskinder an der Macht).
    Auch bei meinen Großeltern mag dies der Fall gewesen sein. In den Jahren nach dem Krieg arbeiteten sie hart, um mit ihren drei Töchtern überleben zu können – aber über Emotionen wurde in dieser Familie, wie in so vielen anderen deutschen Familien, kaum mehr gesprochen. Reflexion, Auseinandersetzung, Innehalten: Das sind und waren Fremdworte. Es galt, stets zu funktionieren.

    Als traumatisch wurde das Kriegsende auch auf Seiten meiner Großeltern väterlicherseits erlebt. Durch einige glückliche Fügungen überlebte mein Großvater den Krieg als U-Boot-Mechaniker in Königsberg und Kiel. Er lag mit Mandelentzündung im Lazarett in Kiel, als sein U-Boot torpediert wurde und mit der gesamten Besatzung an Bord sank. Im Jahr 1941 war sein ältester Sohn, mein Onkel, unehelich zur Welt gekommen. Die Eltern meiner damals erst 18-jährigen Großmutter empfanden die Schande als so groß, dass die Schwangerschaft vor den Nachbarn versteckt werden musste. Meine Großmutter wurde in ein Heim für gefallene Mädchen nach Berlin gebracht, um dort in aller Heimlichkeit ihr Kind auszutragen. Nach fünf Wochen türmte sie aus dem Heim und schaffte es zurück nach Hamburg, wo ihre Eltern die Wohnung mit Decken verhängten, damit sie ja niemand zu Gesicht bekam. Wenig später steckte man sie in die Frauenklinik Bülowstraße in Altona, wo sie gegen Kost und Logis Betten beziehen und Windeln auskochen musste, bis mein Onkel in einer Bombennacht im Luftschutzkeller der Klinikendlich das Licht der Welt erblickte. Vier Wochen durfte sie ihn noch stillen, dann musste sie ihn in der Krippe des Katholischen Krankenhauses Rahlstedt abgeben – fortan war ihr nur noch erlaubt, ihn hin und wieder zu besuchen. Als mein Onkel im Alter von anderthalb Jahren deutliche Anzeichen von Hospitalismus zu zeigen begann, ließen sich die Großeltern erweichen und nahmen das uneheliche Kind mit nach Hause. Im Herbst 1944 dann wurde meinem Großvater von seinem Posten in Königsberg aus Urlaub gewährt, um zu heiraten. In nur 24 Stunden Heimataufenthalt heirateten meine Großeltern und zeugten anschließend meinen Vater. Er wurde im Juni 1945 im zerbombten Hamburg geboren, ein mageres Kind, das in den kommenden Jahren viele Verschickungen über sich ergehen lassen musste, um an Gewicht zuzulegen. Es sollte Monate dauern, bis ihn sein Vater erstmals zu Gesicht bekam: Mein Großvater geriet in Dänemark in Kriegsgefangenschaft und war für die Familie einige Zeit verschollen. Nach seiner Heimkehr lag er monatelang im Bett, litt an Alpträumen, an ausgeprägten Ängsten vor engen Räumen, der Dunkelheit, dem Keller. Vermutlich holten ihn seine Kriegserfahrungen als U-Boot-Mechaniker wieder ein. Nach heutigen Kriterien würde man bei ihm wahrscheinlich eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren.

    Die Familie meines Vater erlebte die Nachkriegsjahre in vielerlei Hinsicht als traumatisch: Arbeitslosigkeit, Geldnot, Hunger quälten die Familie im zerbombten Hamburg. Hinzu kamen noch begrenzte Wohnverhältnisse, denn kurz nach Kriegsende wurde eine ausgebombte vierköpfige Familie in die Wohnung meiner Großeltern mit zwangseinquartiert. Noch heute berichtet mein Vater von Brotsuppe und der täglichen Suche nach Lebensmitteln. Meine Großmutter sagte stets, dass sie diese Zeit, wenn es ihr denn möglich wäre, gern aus ihrem Leben streichen würde. „Bis Mitte der 1950er Jahre ging es uns richtig schlecht“, berichtet sie.Die belastenden Erlebnisse meiner mütterlichen und väterlichen Großeltern in Kriegs- und Nachkriegszeit wirken noch heute auf die Familie. Sie prägten meine Eltern und haben im Zuge dessen auch mich geprägt, obwohl ich erst zwei Generationen später, 1974, geboren wurde.
    Meine Eltern wurden beide kurz nach Kriegsende geboren, in einer Zeit, die keine optimalen Startbedingungen für sie bot: Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit und Orientierungslosigkeit erschwerten das Leben der Großeltern, traumatische Kriegserfahrungen, Schuld und Scham mögen auf ihnen gelastet haben. Meine Großeltern waren kaum in der Lage, meinen Eltern die
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