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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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scherzt er mit seinen Tischnachbarn – auf Deutsch, denn Milan wurde in Hamburg geboren. Seine Eltern stammen aus Jugoslawien und flohen vor Krieg und Verfolgung nach Deutschland. Im Gegensatz zu ihnen hat Milan den Krieg nie erlebt. Dennoch ist der Junge schwer traumatisiert.
    Vor wenigen Monaten, als der Abschiebebescheid für seine Familie in der Post lag, versuchte Milan, sich das Leben zu nehmen. Daraufhin wurde für den Jungen eine stationäre Psychotherapie in der Flüchtlingsambulanz des UKE genehmigt. „Kinder, die hier geboren wurden, sind oft sehr dramatische Fälle“, sagt Kunsttherapeutin Bettina Dosch vom UKE. „Diese Kinder identifizieren sich mit Deutschland und haben einen Wahnsinnshorror davor, ins Land ihrer Eltern abgeschoben zu werden. Manchmal reicht das schon aus, um sie sehr krank zu machen.“ Doch häufig sind auch die Eltern nicht in der Lage, die Ängste ihrer Kinder aufzufangen: „Die Familien gehen oft unzureichend damit um“, erklärt Bettina Dosch. „Da gibt es starke Verleugnungsmechanismen, so dass die Kinder die Probleme letztendlich auf ihren Schultern tragen.“
    Milan zumindest ist wieder auf dem Wege der Besserung – seine stationäre Therapie hat gut angeschlagen, wohl auch, weil die Abschiebung der Familie nach extensiver Lobbyarbeit von Psychologen, Ärzten und Flüchtlingsvereinen vorläufig ausgesetzt wurde. Dafür musste es allerdings erst zu einem Suizidversuch kommen.

    Dass auch wir kriegsgeschädigten Deutschen von der generationenübergreifenden Weitergabe traumatischer Erfahrungen betroffen sind, haben die vorangegangen Kapitel gezeigt. Gerade angesichts der Tatsache, dass noch heute 30 Prozent aller imZweiten Weltkrieg geborenen Deutschen an den Spätfolgen ihrer Kriegserfahrungen leiden, ist unsere Flüchtlingspolitik jedoch kaum verständlich. Gerade wir hätten einen guten Grund, eine humanere Flüchtlingspolitik zu betreiben, die auf Stabilisierung und Aufarbeitung des Erlebten setzt statt auf „Abschiebung um jeden Preis“. So könnte verhindert werden, dass die Flüchtlingskinder ihre traumatischen Erfahrungen an die nächste Generation weitergeben – und unter Umständen eine neue Spirale der Gewalt provozieren. Denn der Wunsch Ohnmachtserfahrungen und Verletzungen zu bewältigen, kann nur allzu schnell in ein Bedürfnis nach Rache münden – aus den Opfern von heute können die Täter von morgen werden.
    Die Psychiater und Psychologen der Ambulanz für Flüchtlingskinder am UKE versuchen in ihrer Arbeit deshalb vorrangig, bei ihren jungen Patienten die Fähigkeit zur Versöhnung zu fördern: „Rache macht krank. Wenn wir Flüchtlingskindern hier Schutz bieten und ihnen helfen können, mit Gefühlen wie Wut, Rache und Hass umzugehen, dann fördern wir auch die Versöhnungsfähigkeit“, erklärt Hubertus Adam. „Diese Kinder haben kulturell und sprachlich ungeheure Kompetenzen. Sie sind Brückenpfeiler. Ihnen zu helfen ist die beste Friedensarbeit, die wir leisten können.“

    Auch Amir ist so ein „Brückenpfeiler“. Und dennoch wird es lange dauern, bis er wieder ein normales Leben führen kann, geschweige denn seine vielen kulturellen Kompetenzen ausschöpfen kann. Noch immer plagen ihn Ängste, Alpträume und depressive Verstimmungen. Er ist in psychotherapeutischer Behandlung und stabilisiert sich nur langsam. Doch eine Sorge ist Amir vorerst los: Die Ausländerbehörde Flensburg hat aus medizinischer Sicht einen Abschiebestopp verhängt, mit etwas Glück erhält der junge Afghane demnächst sogar eine Duldung. Grund dafür ist wohl die PR, die Amir mit seiner Geschichte aufwirbeln konnte: Er nahm an einem Wettbewerb der Anne-Frank-Stiftungzum Thema „Kriegskinder“ teil – und gewann mit einem Text über seine Lebensgeschichte prompt den ersten Preis.
    Amir durfte nach Berlin fahren und Horst und Eva Köhler die Hand schütteln. Als er dennoch wenige Wochen später von den Behörden zur unverzüglichen „Rückführung“ nach Afghanistan aufgefordert wurde, begann auch die Presse, sich für Amirs Schicksal zu interessieren. Unter dem Druck der öffentlichen Aufmerksamkeit musste ein Amtsarzt der Stadt Flensburg schließlich bestätigen, dass Amir als Kriegskind schwer traumatisiert ist und vorerst nicht abgeschoben werden darf.
    Dies ist schon ein erster Schritt. Noch schöner wäre es aber, wenn Amir nach dem erfolgreichen Abschluss der Hauptschule eine Lehre machen dürfte. Doch hier liegt die nächste Hürde: Amir darf keinem
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