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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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verlässliche und positiv zugewandte Bezugsperson (Emmy E. Werner: Vulnerable, but Invincible: A Longitudinal Study of Resilient Children and Youth). Werner untersuchte auf der Insel Kauai in Hawaii über einen Zeitraum von vierzig Jahren die Entwicklung von 698 Kindern, die 1955 geboren wurden und unter schwierigen sozialen Bedingungen aufwuchsen. Sie waren zahlreichen Risikofaktoren wie chronischer Armut, schwierigen Familienverhältnissen und einem geringen Bildungsniveau ausgesetzt. Während zwei Drittel der Kinder später starke Lern- und Verhaltensauffälligkeiten zeigten, an psychischen Erkrankungen litten oder straffällig wurden, wuchsen die übrigen Kinder trotz der erschwerten Bedingungen zu lebenstüchtigen Erwachsenen heran. „Diese jungen Leute waren – unseren Gesprächen nach zu urteilen – in derSchule erfolgreich, fanden ihren Platz im Familien- und Freundeskreis und setzten sich nach Abschluss der Schule realistische Ziele für Ausbildung und Beruf“, erklärte Werner.
    Als die Entwicklungspsychologin der Frage nachging, warum diese Kinder trotz der schwierigen Umstände eine gesündere Entwicklung vollzogen als andere, erkannte sie, dass in ihrem Leben gewisse Schutzfaktoren die Wirkung der Risikofaktoren abschwächten. Als Schutzfaktoren identifizierte Werner positive Vorbilder, aber auch persönliche Eigenschaften der Kinder wie ein ruhiges Temperament, Anpassungsfähigkeit, Offenheit, Kontaktfreudigkeit, Selbstvertrauen. Am wichtigsten jedoch war die dauerhafte und verlässliche Beziehung zu einer stabilen und zugewandten Bezugsperson wie Mutter, Vater, älteren Geschwistern oder Großeltern: Sie trug dazu bei, dass die Kinder die Risikobelastung kompensieren konnten und im weiteren Verlauf keine Symptome entwickelten.

    Es liegt also nahe zu vermuten, dass diejenigen Kriegskinder, die Erfahrungen wie Flucht, Vertreibung und Luftangriffe verhältnismäßig gut überstanden, über eine stabile Bindung an eine schützende Bezugsperson verfügten. Waren etwa die Mütter trotz der vielen gefahrvollen äußeren Einflüsse psychisch in der Lage, ihren Kindern ein Gefühl von Zugewandtheit und Sicherheit zu vermitteln, mögen diese Kinder belastende Situationen als nicht so schlimm empfunden haben. Eine stützende Familie im Hintergrund oder ein intaktes soziales Netz während Flucht oder Luftschutzkelleraufenthalt begünstigten dies sicherlich zusätzlich. So erinnert der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf, geboren 1938, dass er als Kind die Kriegseinwirkungen in Bremen aufgrund der intensiven Beziehung zu Mutter und Großmutter als nicht ganz so schlimm erlebt habe: „Ich bin ein Kind gewesen, das 1938 geboren ist und den Krieg irgendwie überstanden hat, in einer geschützten Familie. Meine beiden Mütter, also Mutter und Großmutter, haben uns unglaublich beschützt. Wennman heute die Fotos betrachtet, dann merkt man, dass wir Kinder immer ganz wohlgenährt aussehen. Wir haben Bäuche und richtige Wohlstandsgesichter“ (Mauersberger: Henning Scherf. Zwischen Macht und Moral. Eine politische Biografie).

    Als in zweifacher Hinsicht traumatisierend wirkt sich in Kriegszeiten der Verlust von wichtigen Beziehungen aus: Die Kinderpsychoanalytikerin Anna Freud beobachtete, dass Kriegskinder die Trennung von ihrer Bezugsperson als genauso traumatisch erlebten wie zum Beispiel Luftangriffe. In dem Buch Heimatlose Kinder schildert Freud, wie sie in dem von ihr gegründeten Kinderheim „Hampstead Nurseries“ während der Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London kleine Kinder betreute, die dort Schutz vor Bombardierungen fanden, dafür aber von ihren in die Kriegswirtschaft eingebundenen Müttern getrennt werden mussten. „Es scheint auf den ersten Blick, dass Kinder wenig Aussichten haben, den Krieg ohne Schädigung zu überstehen“, schrieb sie. „Die in der Gefahrenzone bleiben, sind aller körperlichen Unbill ausgesetzt, leiden unter dem Kellerleben, teilen die Ängste und Aufregungen ihrer Mütter und reagieren auf die sich vor ihren Augen abspielenden Kriegsgräuel und Verwüstungen. Die evakuiert werden und körperliche Sicherheit haben, leiden unter dem Schock der Trennung und verlieren ihren seelischen Halt in den Jahren, in denen Stabilität der Verhältnisse und Beziehungen für die normale Gefühlsentwicklung unentbehrlich sind.“
    Inzwischen weiß man jedoch, dass ein gewisses Maß an Resilienz auch im Laufe des Erwachsenenlebens erworben werden kann. Das sind gute
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