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Wir Kinder der Kriegskinder

Wir Kinder der Kriegskinder

Titel: Wir Kinder der Kriegskinder
Autoren: Anne-Ev Ustorf
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Karte von Deutschland und verschiedene Stadtpläne von Flensburg. Auf seinem Schreibtisch liegt das Grundgesetzbuch. Doch trotz aller Rechtgläubigkeit mag Amir seinen wahren Namen nicht nennen – zu groß ist die Angst, dass ihn seine afghanischen Verwandten in Deutschland finden könnten.

    Vor vier Jahren floh Amir allein von Pakistan nach Deutschland. Eigentlich kommt er aus Kabul, wo sein Vater unter den Russen als Regierungsangestellter tätig war. Doch der Bürgerkrieg in Afghanistan zerstörte seine Familie: Amirs kleine Geschwister wurden von einer Rakete zerfetzt, sein Vater starb bei der Explosion des Wohnhauses. Amir floh mit Mutter und Schwester nach Pakistan zu seinem Onkel und lebte dort acht Jahre lang. Als er mit seiner Mutter nach Afghanistan zurückkehrte, um das Erbe des Vaters zu beanspruchen, gab es Streit mit der Familie des Vaters, einem Muschaheddin-Clan. Dabei wurde Amirs Mutter zu Tode getreten und er selbst mit Schihad belegt, Blutrache in der Familie. Sein pakistanischer Onkel riet ihm zur Flucht und lieh ihm 5.100 Dollar für die Schlepper. Fast drei Monate war Amir auf einer beschwerlichen Reise unterwegs, mit unterschiedlichenTransportmitteln und manchmal auch zu Fuß. Was genau ihm auf dieser Reise passierte, darüber mag er nicht sprechen – zu schrecklich sind die Erinnerungen. In Hamburg setzten ihn die Schlepper schließlich ab. Amir ging zum Hauptbahnhof und stieg in irgendeine Bahn. Im Zug nach Flensburg griff ihn die Polizei schließlich auf und nahm ihn mit auf die Wache, wo man ihm zu essen und zu trinken gab.
    „Ich konnte es gar nicht glauben“, sagt Amir. „Sie haben mich nicht geschlagen, sondern mir einen Tee angeboten. Ich dachte nur: Hier möchte ich bleiben. Allah war mit mir.“ Amir bekommt ein Zimmer in einem Flensburger Kinderheim, wo er fünf Monate lang lebt. Man kümmert sich gut um ihn: Er lernt Deutsch, geht zur Schule und fühlt sich wohl. Die traumatischen Erlebnisse seiner Flucht verblassen ein wenig.

    Amir Gafuri ist ein Kriegskind. „In Deutschland denkt man bei diesem Begriff an die, die vor 1945 geboren sind – in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg“, erklärt der junge Afghane. „Doch Kriege und Kinder, die darunter leiden, gibt es überall, auch jetzt noch.“ Amir ist ein Kriegskind der Gegenwart. Er kommt aus einem anderen Kulturkreis, die politischen Hintergründe sind andere – aber in gewisser Weise sind seine Erlebnisse im Heimatland und auf der Flucht doch zu vergleichen mit den Erlebnissen der deutschen Kriegskinder gegen 1945. Auch er musste ohnmächtig miterleben, wie sein eigenes Leben zum Spielball der politischen Umstände wurde. Auch er sah Familienangehörige sterben, verlor seine Heimat, floh unter abenteuerlichen und mitunter lebensgefährlichen Umständen und musste ganz neu anfangen.
    Viele der rund 200.000 in Deutschland lebenden Flüchtlingskinder haben ähnliche Erfahrungen machen müssen. Sie stammen aus den krisengeschüttelten Regionen dieser Welt, aus Afghanistan, dem Irak, Tschetschenien, dem Kosovo, Serbien, Bosnien, Vietnam, Westafrika oder Nordafrika – und haben oftbereits in jungen Jahren Schreckliches erlebt. Zwischen 5.000 und 10.000 von ihnen kamen wie Amir ganz allein nach Deutschland, ohne Begleitung durch Familien oder Aufsichtspersonen. Doch nur die wenigsten von ihnen finden in Deutschland wirklich einen sicheren Hafen. Im Gegenteil: Die Bedingungen, unter denen sie in Deutschland leben, aktivieren das Trauma oft nur neu.

    Auch Amirs Sicherheit währt nicht lange. Am Tag seines 16. Geburtstags muss er aus dem Kinderheim ausziehen, in eine Flüchtlingsunterkunft für Erwachsene. Der Grund: Flüchtlinge über 16 Jahre gelten nach deutschem Ausländerrecht als ‚volljährig‘ und werden im Asylverfahren behandelt wie Erwachsene. Ein Skandal, denn laut der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 sollen unbegleitete Flüchtlingskinder bis 18 Jahre besondere Schutz- und Hilfemaßnahmen genießen.
    Deutschland ist das einzige europäische Land, das sich bei der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention die Ausnahmeregelung vorbehielt, zwischen deutschen und ausländischen Kindern zu unterscheiden. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Sogar für Flüchtlingskinder, die mit ihren Familien einreisen, kann diese Regelung schlimme Konsequenzen haben: Sind sie 16 Jahre alt oder älter, können sie unter Umständen nach der Einreise anderen Städten zugewiesen – und somit von ihren Familien getrennt
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