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Wir Ausgebrannten

Wir Ausgebrannten

Titel: Wir Ausgebrannten
Autoren: Hilmar Klute
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postmodernen Menschen an sich, der nicht mehr in der Lage ist, auf sich selbst zu achten, der kein Körpergefühl mehr hat und nicht mehr weiß, wie man sich richtig ernährt. Eine Krankheit, die so viele Ursachen hat, muss einfach populär werden.

VERLIEBT IN DIE KRISE
    Wer hat uns eigentlich die Anordnung gegeben, dass wir uns in allen Lebensbereichen ständig optimieren müssen? Wer hat uns den Befehl erteilt, uns auf Facebook einzuloggen und in einen Wettkampf um Freundschaften zu treten, so als müssten wir einen neuen Kontinent erobern? Wer hat uns gesagt, dass wir in dieser Gesellschaft nur dann zurande kommen, wenn wir eine glückliche Ehe führen, zwei bis drei Kinder großziehen und gleichzeitig regelmäßigen Sex haben? Niemand hat das. Das machen wir alles aus eigenem Antrieb. Oder aus Angst. Deshalb haben viele von uns das Bedürfnis, in jedem Bereich ihres Lebens als Sieger dazustehen. Und wenn in dunklen Momenten, die eigentlich die hellen Augenblicke unseres Lebens sind, wenn in ihnen also der Selbstzweifel an die Schädeldecke klopft, dann werden die ersten Synapsen ausgeknipst.
    Dabei ist doch der Zweifel das schönste Geschenk, das ein gütiger Gott uns Menschen bereitet hat. Was ängstigt uns eigentlich daran, uns abends hinzusetzen und unser ganzes alberne Getue infrage zu stellen? Wir sind Anfang 40 und haben eine wie auch immer geartete Karriere hinter uns gebracht. Wir sitzen in einer der höheren Etagen und werden zu exklusiven Partys eingeladen, auf denen nur Führungskräften Champagner eingeschenkt wird. Dafür arbeiten wir von morgens bis abends mit einer irren Intensität, als hätten wir mit dem Vertrag nicht nur unsere Arbeitskraft, sondern unser ganzes Wohlbefinden verkauft. Wir verdienen gutes Geld. Mit diesem Geld richten wir uns und unserer Familie einen Lebensstil ein, der uns auf eine fatale Weise an den Erfolg bindet. Wir dürfen nicht schlappmachen, weil wir sonst aus der Gemeinschaft der frisch geduschten Highperformer ausgestoßen werden. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer nennt diesen furchtbesetzten Optimierungswahn einen »Angstkreis des Perfektionismus«. Wie geschichtsvergessen im Hinblick auf die Menschheitshistorie muss man sein, um nicht zu erkennen, dass Mensch und Perfektion sich zueinander verhalten wie Fische zur Vorstandssitzung – sie passen nicht zueinander. »Der Prozess der Leistungssteigerung führt zum Infarkt der Seele«, schreibt Byung-Chul Han.
    Was also passt besser zu uns Unvollkommenen als das Eingeständnis, unvollkommen zu sein? Was also steht uns günstiger zu Gesicht als der Zweifel an dem, was wir täglich tun?
    Liest man sich die Fallgeschichten der Burnouter durch, gilt ihnen der Zweifel als Eintrittsbillett in den seelischen und sozialen Abgrund. Sobald sich eines Morgens der Zustand einstellt, nicht mehr weiterzukönnen und das Erreichte infrage zu stellen, winkt die Diagnose Burnout wie eine böse alte Deichhexe herüber. Und dann ist man plötzlich Teil einer Gruppe von Auserwählten, mit denen die Gesellschaft bitte schön vorsichtig umgehen möchte, denn sie sind ja schon in doppelter Hinsicht gebrandmarkt: Einmal, weil sie ausgebrannt sind, und dann, weil sie als nicht mehr funktionstüchtig gelten. Was, wenn all diese plötzlich Irritierten einen Moment innehalten würden und sagten: Moment mal, das ist doch mal ein schöner Geistesblitz, der mir gerade ins PowerPoint-verseuchte Hirn fährt: Ich stelle alles grundsätzlich infrage. Ich bezweifle, dass wir unsere Gesellschaft wirklich voranbringen, wenn wir uns auf dem Egotrip der Selbstausbeutung zu postmodernen Märtyrern unserer eigenen Erschöpfung machen. Ich bezweifle, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, einen Beruf anzunehmen, der mir nur Müh und Plage und nicht Selbsterkenntnis, Kontemplation und Erkenntnisgewinn bedeutet. Als junger Mensch habe ich italienische Literaturgeschichte studiert, und was mache ich heute? Insolvenzverwaltung. Wie soll das denn zusammengehen? Und mit diesen Zweifeln gehe ich jetzt mal zu meiner Familie. Ich verklickere meiner zwölfjährigen Tochter, dass ich keine Lust mehr darauf habe, dass sie sich für ein ereignisarmes Leben im Twitter-Reich entschieden hat. Ich erkläre meiner Frau, dass wir keine Fußbodenheizung in die Küche einbauen, weil ich dafür nicht arbeiten will, und dass wir den Sommerurlaub nicht in Acapulco verbringen, sondern an einer der schönen Küsten im Beitrittsgebiet, das wir emphatisch »die neuen
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