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Wir Ausgebrannten

Wir Ausgebrannten

Titel: Wir Ausgebrannten
Autoren: Hilmar Klute
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bereithält, für die es auch umgehend eine Heilmethode gibt? Und schließlich: Sind wir aufgeklärte Bürger nicht auch in der Pflicht, für unser Wohlergehen selbst Sorge zu tragen und die reichlich kurze Zeit hienieden mit Würde und Sinn zu füllen und diese Würde und diesen Sinn sogar selbst zu definieren?
    Diese und verwandte Fragen will dieser Essay stellen und so gut es geht beantworten. Er will auch für das Wagnis werben, die eine oder andere Expertenmeinung getrost in den Wind zu schlagen, die gehobenen Zeigefinger der Abmahner und Tugendwächter nach hinten zu knicken und die Koordinaten für ein gutes, kluges und vergnügliches Leben selbst zu suchen. Man muss kein nerviger Emphatiker sein, um zu finden, dass selbst unsere hochgetunte Effektivgesellschaft der Ausgestaltung jenes guten, klugen und vergnüglichen Lebens genug Platz einräumt. Dass wir uns den Anspruch auf diesen Platz nicht nehmen lassen, auch dafür wirbt dieser Essay. Und weil er im Ton und in der Haltung der Polemik verfasst ist, sieht er sich nicht verpflichtet, dem Genüge zu tun, was man gemeinhin »politische Korrektheit« nennt.

DIE LUST AN DER ERSCHÖPFUNG
    Alle Nase lang entdecken wir Deutschen ein neues Leiden für uns, mit dem sich fabelhaft erklären lässt, warum wir mit dem Leben und seinen Begleiterscheinungen schon von Haus aus nicht klarkommen können. Dieses Leiden pflegen wir dann wie eine Stubenkatze und stellen es umstandslos unter unseren Schutz. Eine Zeit lang fanden wir es etwa hilfreich, vor allem und jedem Angst zu haben. Angst vor dem sozialen Abstieg, vor dem militanten Islam, vor Google Street View, vorm Klimawandel und vor Gurken, in denen das Ehec-Virus hockt und mit geifernder roter Zunge auf die Gelegenheit wartet, möglichst viele von uns niederzustrecken. All diese Ängste haben sich nicht erfüllt, der militante Islam hat an Militanz verloren, Google Street View stellt sich als harmloses, bequemes Instrument zur Vorbesichtigung künftiger Wohnadressen heraus, und bei dem Wort »Ehec« müssen wir inzwischen schon bei Wikipedia nachschauen, um uns zu erinnern, was das noch einmal war.
    Deutlich schöner und spektakulärer leiden als am äußeren Weltgeschehen lässt sich, das haben wir vor gut einem Jahr herausgefunden, am diffusen Gewimmel unseres unbegreiflichen inneren Seelenzoos. Deshalb ist unser jüngstes Lieblingstierchen die totale Erschöpfung, das Phänomen also, morgens aufzuwachen und den Kopf voll mit Selbstzweifeln vorzufinden; das bohrende Gefühl, den täglichen Anforderungen nicht mehr zu genügen; eine erregende Orientierungslosigkeit, die uns plötzlich in den Zustand des Nicht-mehr-weiter-Könnens versetzt. Es ist das Phänomen, nach einem anstrengenden Arbeitstag eine beunruhigende Müdigkeit zu verspüren, die so weit geht, dass man es am Abend nicht mehr zustande kriegt, ein Buch zu lesen oder dem Verlauf eines Fernsehfilms zu folgen. Wer eines oder gleich mehrere dieser Symptome – ja, es sind unbedingt immer Symptome, darunter machen wir es nicht – an sich ausmacht, der sollte ohne Umschweife einen Arzt konsultieren. Der Arzt nimmt ihn dann für die nächsten drei Monate einfach mal raus aus dem täglichen Guant á namo, das unser Büro nun einmal ist, und lässt ihn in einer professionellen Mindfulness-Based Stress Reduction zu neuer Blüte kommen.
    Wer diesen großen Rausch, wer die geradezu promiskuitive Lust an der totalen Erschöpfung anschaut, gewinnt den Eindruck, wir Deutschen wollten nach all den Jahren des Fleißes endlich unser Recht am Burnout einklagen. Wir haben ja auch ungeheuer viel Arbeit in unser Gemeinwohl investiert. Nach dem Krieg haben wir nicht nur unsere zerbombten Städte mit einer sensibel ausgefeilten Wiederaufbau-Architektur gesegnet, sondern auch noch ein Wirtschaftswunder hingelegt, das unsere europäischen Nachbarn zu augenreibenden Zeugen des neuen deutschen Wohlstands gemacht hat. Wir haben uns Ende der 60er-Jahre einen gesellschaftlichen Umbruch geleistet, der unsere bis dahin eher theoretisch konfigurierte freie Gesellschaft in eine reale freie Gesellschaft umgemünzt hat mit sexueller Gleichberechtigung und dem Einkassieren diskriminierender Gesetze gegen Frauen und Homosexuelle. Dann fingen wir an, uns an unserer elenden Vergangenheit abzurackern, die Auschwitz-Prozesse, der Treblinka-Prozess und die mit ihnen einhergehende schonungslose Aufarbeitung der NS-Zeit kostete uns Kraft und Reue. Wir besiegten den RAF-Terror, überwanden das
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