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Wir Ausgebrannten

Wir Ausgebrannten

Titel: Wir Ausgebrannten
Autoren: Hilmar Klute
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man braucht kein Augur zu sein, um zu prognostizieren, dass wir in den kommenden Jahrzehnten medial und kommunikativ weit mehr gefordert sein werden, als wir es heute schon sind. Welchen Zustand der Erschöpfung werden wir dann erreicht haben? Und welche psychischen Krankheiten, die wir heute noch als Unpässlichkeiten hinnehmen, werden wir dann vor uns hertragen? Wird Burnout dann vielleicht nur noch eine niedliche Seelenverkühlung sein, an welcher die Großvätergeneration im Biedermeier des frühen 21. Jahrhunderts gelitten hat? Oder wird die Arbeit in der Zukunft nur noch sehr wenigen Menschen zur Verfügung stehen, sodass die große Erschöpfung ein Merk mal der Eliten sein wird?
    Oder wird alles ganz anders kommen? Werden wir uns auf unser nahe liegendes Umfeld konzentrieren, werden wir, nachdem die sozialen und wirtschaftlichen Systeme kollabiert sind, alles selbst in die Hand nehmen, Schulen und Kindergärten selbst verwalten, Arbeit selbst schaffen und ausüben? Und werden wir dann wieder zurückfinden zu jener Douceur de vivre, die uns die Tradition des Abendlandes bereithält, weil wir nicht mehr in Abläufen stehen, die uns wesensfremd sind?
    Die Welt von Gestern – so heißt das gewaltige Lebensbuch, das Stefan Zweig in der finstersten Zeit des 20. Jahrhunderts im brasilianischen Exil geschrieben hat, wohlgemerkt am Endpunkt einer Epoche, die alles, was Zivilisation und Kultur ausmacht, ins Grauenhafte verzerrt hat. Die Veränderung hat die Menschen aus ihren Bahnen geschleudert, viele heimatlos gemacht, viele in den Tod, einige in den Wahnsinn getrieben. Das ist die große Anklage Zweigs, sein Testament. Aber es ist nur ein Teil davon. Gleich zu Beginn seiner Erzählung erinnert sich Stefan Zweig an seine Kindheitsjahre in Wien, eine paternalistische, von den Konservatismen des Kaiserreichs geprägte Epoche, in der alles und jeder seinen Platz hatte, in der es nur Unverrückbares zu geben schien: »Dieses Gefühl der Sicherheit«, schreibt Stefan Zweig, »war der erstrebenswerte Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut.«
    Man kann sich ein ganzes Kaleidoskop an Utopien ausdenken, wie unser Leben sich in mittlerer Zukunft gestaltet. Sicher ist jedenfalls, dass sich unsere Lebenswelt und damit unser Verhältnis zu uns selbst dauernd wandelt, und das ist ja auch richtig so. Ob es spannend wird, barbarisch oder beglückend, weiß keiner. Relativ sicher ist jedenfalls, dass man gut daran tut, möglichst erfrischt in die Zukunft zu gehen. Als Ausgebrannter könnte man vermutlich ein hohes Maß an Mitleid erwarten, aber welcher selbstbestimmte Mensch will das schon?

LITERATUR
    Aristoteles: Nikomachische Ethik. Berlin 2011.
    Berg, Sibylle: Das Schleudertrauma des Geistes. In: Spiegel online. Hamburg 14.01.2012.
    Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Bände 1–3. Frankfurt 1982.
    Botton, Alain de: Die destruktive Macht der Internet-Pornografie. In: welt.online. Berlin 25.01.2012.
    Brecht, Bertold: Einheitsfrontlied. In: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Berlin 1997.
    Bruckner, Pascal: Wege aus dem Schlamassel. In: Perlentaucher. Berlin 09.04.2012.
    Coelho, Paulo: Auf dem Jakobsweg: Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Zürich 2007.
    Eagleton, Terry: Der Sinn des Lebens. Berlin 2008.
    Ehrenberg, Alain: Das Unbehagen in der Gesellschaft. Berlin 2011.
    Epikur: Philosophie der Freude. Berlin 1999.
    Foer, Jonathan Safran: Tiere essen. Köln 2010.
    Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther. Berlin 1998.
    Gontscharow, Iwan: Oblomow. München 1998.
    Grass, Günter: Im Krebsgang. München 2004.
    Hagena, Katharina: Der Geschmack von Apfelkernen. Köln 2011.
    Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2010.
    Handke, Peter: Versuch über die Müdigkeit. Berlin 1992.
    Haselbach, Dieter; Klein, Armin; Knüsel, Pius; Opitz, Stephan: Der Kulturinfarkt: Von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention. München 2012.
    Hessel, St é phane: Empört euch! Berlin 2011.
    Hochschild, Arlie Russell: Das verkaufte Herz. Die Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt 2006.
    Kerkeling, Hape: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. München 2008.
    Koch, Christoph: Ich bin dann mal offline: Ein Selbstversuch. Leben ohne Internet und Handy. München 2012.
    König, Johann: Ich hab ’ Burn-out
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