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Im Namen des Kreuzes

Im Namen des Kreuzes

Titel: Im Namen des Kreuzes
Autoren: Peter Probst
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1.
     
    August 2008
     
    Der Junge saß in kurzen Turnhosen auf der Couch. Er kratzte den Schorf an seinem rechten Knie auf. Langsam bildete sich ein Blutstropfen. Er wischte ihn weg und leckte den Finger ab.
    »Was ich gefühlt habe? Nichts eigentlich.«
    »Wirklich?«
    »Ja.«
    Der Mann im Sessel lächelte. Er war etwa sechzig, leicht übergewichtig, sein schütteres Haar hatte er kunstvoll über die kahlen Stellen drapiert. Der Junge starrte auf die kleine silberne Anstecknadel am Kragen seines grauen Hemdes: ein Buchstabe, ein ›M‹ in einem Strahlenkranz.
    »Hast du denn nicht gedacht: Den mache ich jetzt fertig?«
    »Ne, echt nicht. Der war ja viel größer als ich und sicher drei Jahre älter. Außerdem hatte er seine Kumpels dabei.«
    »Aber er hatte dir deine Geldbörse abgenommen und dein Handy.«
    »Und die goldene Halskette von meinem Bruder. Die hat er sogar absichtlich zerrissen.«
    Die Stimme des Jungen überschlug sich.
    »Ruhig, Patrick. Jetzt mach die Augen zu und versuch, dich zu erinnern: Was ist in dem Moment mit dir passiert?«
    Der Junge schloss die Augen. Der Mann betrachtete ihn und zog dabei einen Mundwinkel nach oben.
    »Ich … ich habe ’nen ganz heißen Kopf bekommen.«
    »Lass bitte die Augen zu.«
    »Ich habe gehört, wie das Blut in meinen Ohren pocht. Und dann habe ich nicht mehr richtig gesehen.«
    »Es war wie in einem Tunnel?«
    »Ja, genau, einem dunklen Tunnel. Und dann hat mir eine Stimme gesagt: ›Los! Spring ihm ins Kreuz!‹.«
    »Was war das für eine Stimme?«
    »Die von meinem Bruder.«
    »Dein Bruder ist nicht mehr am Leben, soviel ich weiß.«
    »Seine Stimme höre ich trotzdem.«
    »Sie sagt dir, was du tun sollst?«
    Der Junge schwieg und kratzte wieder an dem Schorf. Ein Blutstropfen rann langsam am Schienbein hinunter. Der Mann schob ihm eine Schachtel mit Papiertüchern hin und blätterte in einem Bericht. »Hier steht: Patrick K. griff seinem Opfer in die Haare und schlug dessen Kopf immer wieder auf den Betonboden.«
    »Seinem Opfer«, sagte der Junge höhnisch.
    »Du hättest ihn umbringen können, Patrick. Wolltest du das?«
    »Quatsch, natürlich nicht. Außerdem haben seine Kumpels mich ja gleich von ihm weggerissen.«
    »Die Zeit hat immerhin gereicht, um ihm Nase und Kiefer zu brechen.«
    Keine Reaktion.
    Mit einem Mal roch es angesengt, ein Nachtfalter war zu nahe an eine der Kerzen geraten. Der Junge beobachtete interessiert, wie das Insekt sich auf der Glasplatte des Couchtischs mit lautem Brummen um die eigene Achse drehte. Er holte aus, aber der Mann packte sein Handgelenk. Der Griff war erstaunlich fest.
    Der Junge starrte ihn an. »He, lassen Sie mich los!«
    Der Mann lächelte und gab seine Hand frei. Der Falter drehte sich langsamer und blieb schließlich liegen.
    »Gut, Patrick, jetzt pass auf. Ich weiß, dass du zu diesen und anderen unschönen Vorfällen schon oft befragt worden bist – von deinem Vormund, deinem Betreuer in der Wohngemeinschaft, der Polizei, deinem Therapeuten und den Leuten im Jugendarrest. Es waren immer dieselben Fragen, und auch deine Antworten sind mit der Zeit immer ähnlicher geworden. Aber geändert hat sich nichts.«
    »Ich habe gesagt, dass es mir leidtut.«
    »Es tut dir leid. Und warum?«
    Er hob die Schultern. »So halt.«
    »Es tut dir leid wegen der Konsequenzen. Nur darum. Du tust dir selbst leid, weil deine Freiheit nach jedem solchen Vorfall ein Stück weiter eingeschränkt wurde. Aber du hast nie begriffen, dass du Schuld auf dich geladen hast.«
    »Schuld? Bin ich schuld, wenn ich abgezogen werde? Und wenn einer die Halskette von meinem Bruder kaputt macht?«
    »Bei dir sind immer die andern schuld, Patrick. Die haben angefangen, die waren in der Überzahl und sowieso viel älter als du. Und als ihr diesem Mädchen Gewalt angetan habt, bist du angeblich auch nur von den andern angestiftet worden. Du hast immer für alles Ausreden gehabt.«
    »Es ist auch meistens scheiße gelaufen für mich. Das ist wie ein Fluch.«
    »Ein Fluch?«
    Der Junge machte eine Unschuldsgeste und grinste.
    »Willst du noch was trinken?« Der Mann hielt ihm ein Glas mit Wasser hin.
    Er trank es gierig aus.
    »Du bist jetzt vierzehn, Patrick, und hast Erfahrungen gemacht, die andere in ihrem ganzen Leben nicht machen. Du hast Dinge getan, an die normale Jungen in deinem Alter nicht mal denken. Du bist verletzt worden und hast andere verletzt. Dein Leben war bis jetzt eine einzige schiefe Bahn, es ist immer bergab gegangen mit
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