Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond
Autoren: Tanja Heitmann
Vom Netzwerk:
fallen.
    Einen Augenblick später legte der Mann die Rasierklinge beiseite, griff sich ein Handtuch und trat ins Zimmer. Während er sich die letzten Schaumspuren aus dem Gesicht wischte, sah er Meta schweigend an. Sattgesehen?, schien er sie zu fragen. Er hatte ihren neugierigen Blick also doch bemerkt und ihr die Zeit zugestanden, ihn ausgiebig zu beobachten.
    Wortlos hängte er das Handtuch über einen Holzstuhl neben der Tür, dann ging er zu dem Karton hinüber. Metas Blick hing unverwandt an ihm, aber als sie einige vernarbte Striemen auf seinem Rücken entdeckte, griff sie nach ihrem Kleid und floh ins Badezimmer.
    Immer schön durchatmen, redete Meta auf sich ein, während sie sich hastig abduschte und dabei mit zittrigen Fingern ihren Körper inspizierte. Alles noch an Ort und Stelle, stellte sie erleichtert fest. Und so wird es auch bleiben. Wenigstens hatte der Adrenalinschub ihrem Kater ein Ende bereitet.
    Mit den Fingerspitzen wischte sie den Wasserdunst vom Spiegel und musterte sich rasch, bevor er wieder beschlug. Ihr schmales Gesicht war bleich wie immer, nur ihre Lippen waren eine Spur geschwollen. Mit den Fingern kämmte sie durch ihr Haar, das ein Stück über das Kinn reichte, und strich es sich hinter die Ohren.
    Du ziehst dir jetzt dein Kleid an, schnappst dir Handtasche und Schuhe, rufst noch einmal »Ciao« über die Schulter und suchst dir auf der Straße ein Taxi, versprach sie ihrem zerrüttet aussehenden Spiegelbild. Und danach wird diese Nacht unter dem Motto »One-Night-Stand - nicht zum Weitererzählen geeignet« abgelegt.
    Als Meta durch den Türspalt linste, war von dem dunkelhaarigen Mann keine Spur zu sehen.Auf der glattgestrichenen Bettdecke lag ihre mit Kristallen besetzte Clutch, davor standen ihre T-Straps, als müsse sie nur noch in sie hineinspringen und durch die Tür am anderen Ende des Zimmers ins Freie flüchten.
    Aus dem Raum neben dem Badezimmer erklang das Scheppern von Geschirr, und Meta sog Kaffeeduft ein. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sie im Türrahmen und spähte in die Küche, die einem Verschlag glich, obwohl durch eine Fensterluke Sonnenlicht einfiel. Zu ihrer  Enttäuschung hatte sich der Mann ein Hemd übergezogen. Er warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu, dann holte er von einem Regal eine zweite Tasse herunter und schenkte Kaffee ein. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Meta sich zu ihm in die Küche verirren würde, da er ihr doch den Fluchtweg freigehalten hatte.
    »Guten Morgen«, sagte er, als er ihr die Tasse hinhielt. Er versuchte sich an einem Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. Diese leuchteten in einem tiefen Blau, eingegrenzt von einem Band, das von seinem schattigen Farbton her an jene Linie erinnerte, die den Horizont markiert. Eine betörende Komposition.
    »Der Kaffee macht ihn auf jeden Fall besser«, erwiderte Meta und wusste dann nicht weiter. Um ihre Verlegenheit zu überwinden, trank sie einen Schluck und stellte erleichtert fest, dass ihr Magen die warme Flüssigkeit gnädig aufnahm. »Ich heiße übrigens Meta.«
    »David.« Eine tiefe Stimme mit einem leicht verhaltenen Ton, der vermuten ließ, dass dieser Mann lieber leise sprach.
    Meta musste sich eingestehen, dass David auch frisch geduscht noch sehr anziehend roch. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er einen Schluck Kaffee trank, durchfuhr sie plötzlich eine Erkenntnis: Dieser Mann war definitiv ein paar Jahre jünger als sie, höchstens Mitte zwanzig. Sein dunkler Typ und die ernsthafte Ausstrahlung mochten zunächst darüber hinweggetäuscht haben, aber nun im Morgenlicht blieb kein Zweifel. Ein Student, dachte Meta. Oder schlimmer: irgendein heruntergekommener Schläger, wenn man seine alten und frischen Verletzungen bedachte.
    Während sie vor lauter Verlegenheit ihre Aufmerksamkeit dem Schlafzimmer zuwandte, in dem noch immer die Musik von Violent Femmes lief, blieb ihr Blick an einem Bild hängen, das unter einem der Fenster an der Wand lehnte.  Ein streng geometrisch aufgeteiltes Bild mit exakt umrissenen Flächen, die wie mit einem Chirurgenbesteck herausgeschnitten und fein säuberlich zusammengesetzt wirkten. Blasse Farben, kaum Akzente oder gar ein Lichtspiel. Meta glaubte, von einer ungewöhnlichen Perspektive aus auf den Ausschnitt eines modernen Bauwerks zu blicken. In dem Bild gab es etwas Vertrautes, und sie war kurz davor, es zu fassen zu bekommen.
    »Das ist interessant - von wem ist das?«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher