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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond
Autoren: Tanja Heitmann
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die Finger zu kriegen. Er bittet dich in den Audienzsaal. Hoffentlich hast du dir eine gute Ausrede zurechtgelegt. Aber so, wie du riechst, wirst du wohl kaum dazu gekommen sein.«
    David nickte ihm kurz zu und stieg dann die sanft geschwungene Treppe hinauf - oder besser: die verbliebenen Reste davon. Irgendwann einmal hatte jemand beschlossen, das Innenleben des Palais umfassend zu überholen, aber die Arbeiten waren nie zu Ende geführt worden. Bei der breiten Treppe, dem Herzstück des Gebäudes, fehlte das Geländer, und was auch immer die Stufen einmal bekleidet haben mochte, hatte nur einige Klebespuren auf dem Zement hinterlassen. Die hohen Wände waren früher einmal in hoheitlichem Blau erstrahlt, aber jemand hatte ohne System Farbkleckse auf ihnen verteilt, als habe man nach einer passenden Farbe gesucht, sie aber nie gefunden. Flure, Foyer und Treppenschacht waren erst halb fertig und doch schon wieder verwahrlost.
    Als David den Audienzsaal betrat, der einen Großteil des ersten Stocks einnahm, stellte er erleichtert fest, dass er verlassen dalag. Dankbar für jede Minute Aufschub sah er sich um, während ihm der Widerhall seiner eigenen Schritte unangenehm auffiel. Er war erst einige Male hierherbestellt worden und hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich eine Vorstellung von diesem großen, nahezu leeren Raum zu machen.
    Trotz der vielen hohen Fenster fiel nur spärliches Licht ein, da das gegenüberliegende Haus das Palais überragte. Die Wände zeigten sich in einem rauchigen Lavendelton, wo sie nicht von offen liegenden Leitungen durchbrochen waren. Inmitten des Raums stand ein gewaltiger Tisch, über dem  eine Pelzdecke mit Brandlöchern und Schmutzflecken ausgebreitet lag.
    Gegen die Kühle des Raumes arbeitete ein Heizlüfter an. Die umhergewirbelte Luft war schwer von einem Strauß Lilien, der neben einer Designer-Musikanlage an der Wand stand. Der süßliche Duft nach Verwesung setzte sich in Davids Nase fest, so dass er automatisch ein Würgegefühl verspürte. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch von einer Decke angezogen, die zerwühlt in der Ecke lag. Oder etwas abdeckte. David wollte es nicht so genau wissen. Doch je länger er im Audienzsaal stand, desto mehr setzte ihm der penetrante Geruch zu, bis er schließlich begriff, dass er noch etwas anderes wahrnahm … etwas Verbranntes.
    Gerade als David sich dabei ertappte, wie er langsam rückwärts zum Ausgang schritt, öffnete sich eine Seitentür, und Hagen trat ein. Ohne erkennen zu lassen, was ihm durch den Kopf ging, musterte er David eingehend. Dann schloss er die Tür und stellte sich hinter die Breitseite des Tisches. Er hielt den Blick nach wie vor auf David gerichtet, der mit einem störrischen Zug um den Mund zurückstarrte.
    Durch die Seitentür drang die helle Stimme einer Frau, die ununterbrochen etwas erzählte. Amelia führte offensichtlich ein Telefonat, und David war äußerst dankbar dafür. Es reichte ihm vollkommen, Hagens Missmut ausgeliefert zu sein - auf Publikum konnte er gern verzichten.Vor allem wenn es sich dabei um die Gefährtin seines Anführers handelte, die für ihre schneidenden Kommentare berüchtigt war.
    Hagens außergewöhnlich kräftige Finger strichen durch den verdreckten Pelz, während David regungslos auf den ersten Zug seines Gegenübers wartete. Doch Hagen verlor sich in der Liebkosung des Fells, und je länger David auf die streichelnde Hand blickte, desto stärker wurde das Kribbeln in seinem Nacken. Als streichle ihn jemand, jemand, der ihn erregen wollte. Gereizt biss er die Zähne aufeinander, und als Hagen ihn endlich anlächelte, war sein Kiefer so verspannt, dass er es kaum erwidern konnte.
    »Ist dir vielleicht kalt, David? Nein? Und warum ziehst du dann deine Jacke nicht aus und kommst ein wenig näher?«
    Hagens Bariton klang wie immer zu laut in Davids Ohren, und die Vorstellung, sich diesem Mann zu nähern, ließ ihn innerlich zusammenzucken. Seine Erscheinung mit der zur Schau gestellten Virilität schürte sein Misstrauen: das stoppelige Gesicht, die dunkle Kleidung und die derben Lederstiefel. Seht her, schien die Verkleidung zu sagen, ich bin ein ganzer Kerl, ein geborener Anführer, geradlinig und respektabel - ihr könnt mir vertrauen. All das glaubte David ihm nicht. Das seltsame Palais und die verschmutzte Pelzdecke sagten viel mehr über Hagens Wesen aus. Allerdings etwas, das David nur bruchstückhaft in Worte fassen konnte.
    Plötzlich sprang Hagen mit einem Satz über den
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