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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond
Autoren: Tanja Heitmann
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zwingen musste, nicht zu laufen. Er brauchte auf keine Uhr zu blicken, um zu wissen, dass er schon zu viel Zeit verloren hatte. In seinem Nacken hatte sich ein drohendes Kribbeln ausgebreitet, das sich rasch zu einem festen Griff verdichten konnte, wenn er nicht endlich einen Schritt schneller ging.
    »Sie werden dich mit diesem heißen Ritt aufziehen.«
    »Ich weiß«, erwiderte David ruppig. »Aber ich kann es nun einmal nicht ändern, okay?«
    Jannik lachte verhalten, während er versuchte, mit David  Schritt zu halten. »Die letzte Nacht hat sie alle total wild gemacht, diese alten Scheißer. Ich war noch nicht mal richtig wach, da haben die sich schon die Mäuler zerfetzt. Muss ja ganz schön gebumst haben bei dir, wenn ich das richtig mitbekommen habe.Wie wäre es mit einer kleinen Berichterstattung?«
    »Nun gib schon Ruhe«, blockte David ab, stimmte dann aber selbst leise ins Gelächter ein, obwohl er versuchte, es hinter dem Schild seiner Baseballkappe zu verbergen.
    Jannik hingegen machte es nichts aus, der Welt sein Lächeln zu zeigen. Seine Züge schienen wie gemacht für ein gut gelauntes Strahlen. Während David darüber nachdachte, verging ihm der Frohsinn. Schließlich lebten sie beide nicht in einer Welt, in der man ungestraft über die Straßen schlenderte und über erotische Ausschweifungen plauderte. Janniks unkompliziertes Wesen mochte zwar dazu einladen, aber David kam es so vor, als spränge er vor lauter Übermut auf einer Falltür herum, die jeden Moment aufschnappen und ihn in die Tiefe stürzen lassen konnte. Als ihr Ziel sich im unablässigen Nebeneinander der Hausfassaden abzeichnete, hätte er dem immer noch unbekümmert lächelnden Jannik am liebsten den Ellbogen in die Seite gerammt.
    Obwohl die Straße abseits der Hauptschlagadern der Stadt lag, fuhren auch hier unentwegt Autos entlang. Nur die Gehwege waren verwaist - ein Kennzeichen dieser Stadt, in der sich kaum jemand zu einem Spaziergang berufen fühlte. Lieber rottete man sich in den Bussen und U-Bahnen zusammen, als könnte der Herdenschutz alles Unangenehme aufwiegen. Doch in der Straße, auf die David und Jannik zuhielten, nahm auch der Straßenverkehr auf unerklärliche Weise ab. Sie lag verlassen. Trotz der unzähligen Fenster erschien der Gedanke seltsam, dass sich hinter den Scheiben tatsächlich Leben abspielte. Es war, als gäbe es nur Asphalt und Mauerwerk. Selbst  der Himmel zeigte sich inzwischen in einem Grau, das an schmutzigen Putz erinnerte.
    Als die beiden jungen Männer vor dem Stadtpalais hielten und verlegen von einem Bein aufs andere traten, musterte David es voller Argwohn: Die meisten Gebäude der Stadt sahen wenig einladend aus, weil der Schmutz und die Abgase sich wie eine Patina über alle Fassaden legte. Aber dieser Palazzo, der sich zu beiden Seiten an gewöhnliche Mietblöcke lehnte, wirkte wie ein Fremdkörper. Das lag zum einen an seiner optischen Erscheinung. David zog jedes Mal die Nase kraus, wenn er davorstand. Der Bauherr hatte wahrscheinlich unter einem Überschuss an Nostalgie gelitten und dem Architekten seine verschwommene Vorstellung von einem venezianischen Palais aufgezwungen. Das Ergebnis, reichlich Stuckwerk und verzierte Bogenfenster, sah in diesem Sozialbau-Viertel wie ein schlechter Witz aus. Ein sich langsam auflösender Witz, wie die bröckelige Fassade belegte. Zum anderen aber war das Gebäude von einer selbst für diese Stadt unvergleichlich düsteren Aura umgeben. Hier hinein setzte niemand freiwillig einen Fuß.
    »Du bist wirklich spät dran«, sagte Jannik, und seine großen Kinderaugen blinzelten David an.
    Nur mit Mühe gelang es David, eine grobe Entgegnung für sich zu behalten. Schließlich hatte Jannik Recht. Trotzdem zögerte er und rieb seine feuchten Handflächen an der Jeans trocken. »Willst du nicht drinnen auf mich warten?«, fragte er Jannik noch, während er schon die Treppen zur Eingangstür hinaufstieg. Aber Jannik winkte nur ab, setzte sich mit Burek zwischen seinen Knien auf die unterste Stufe und machte sich daran, eine Zigarette zu drehen. David warf ihm noch einen neidischen Blick zu, weil sein Freund nicht mit hineingehen musste, dann schob er die schräg in den Angeln hängende Tür auf und verschwand im dunklen Hausflur.
    »Na, du Penner«, begrüßte ihn Malik, der unten im Foyer auf einem Stuhl saß und in einer Sportillustrierten blätterte. »Was war denn das für eine Party letzte Nacht? Eure Herrlichkeit kann es gar nicht erwarten, dich in
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