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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond
Autoren: Tanja Heitmann
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der wirre Gedanke an eine Zeitreise durch Metas Kopf - war sie vielleicht wieder die Kunstgeschichtsstudentin, deren WG-Genossinnen nicht einmal am frühen Morgen vor Rockmusik zurückschreckten? Doch diese Vorstellung wurde sofort von einem dumpf pochenden Schmerz beendet, der Meta gut vertraut war. Genau wie der ausgetrocknete Mund und die Säuregrube in ihrem Bauch. Das Pochen zwischen ihren Schenkeln erinnerte sie daran, dass ihr nicht nur ein grauenhafter Kater, sondern auch die Begegnung mit ihrem unbekannten Liebhaber der letzten Nacht bevorstand. Denn dass die Nacht vorbei war, verriet das monotone Verkehrsrauschen, das mit der kühlen Luft ins Zimmer getragen wurde.
    Widerwillig öffnete Meta die Augen und blinzelte ins graue Morgenlicht. Zu ihrer Erleichterung fand sie sich allein auf dem Bett wieder. Auf einer Matratze auf dem Boden, wie sie sich sogleich korrigierte. Ein schmaler Raum mit hohen, roh verputzten Wänden und altersschwachen Doppelfenstern, von denen eins einen Spalt weit geöffnet war. In einer Ecke stand neben einer Stereoanlage, aus der die anstrengende Musik erklang, ein Karton, der bis obenhin mit Kleidung vollgestopft war. In was für einer Absteige war sie bloß gelandet?
    Auf dem Dielenboden entdeckte Meta zu ihrer Erleichterung einen Zipfel ihres Kleides. Als sie sich jedoch hastig aufsetzen wollte, um danach zu greifen, überkam sie schlagartig Übelkeit, und sie ließ sich langsam wieder in das Kissen zurücksinken.
    Während sie mit ihrem widerspenstigen Körper um die Gewalthoheit kämpfte, wanderte ihr Blick zu einer offen stehenden Tür, aus der Wasserdampf wallte. Mit pochendem Herzen erblickte sie die seitliche Körperlinie eines Mannes. Ein nackter Oberkörper, Jeans, barfuß.Angezogen von diesem Anblick, richtete Meta sich ein wenig auf, bis sie einen Oberarm zu sehen bekam, über dessen Ellbogen eine dunkelviolette Prellung aufblitzte. Dann blickte sie in das Gesicht des Mannes, indem sie in den Spiegel schaute, vor dem er stand und sich rasierte.
    Er hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt und schabte mit der Rasierklinge den Schaum von der Kehle weg. Eine langsame, selbstversunkene Bewegung, die Klinge von unten nach oben führend. Obwohl seine Augen auf den Spiegel gerichtet waren, schien er sich nicht zu sehen. Auch dass Meta sich im Zimmer regte, entging ihm wohl. Konzentriert spülte er die Klinge unter dem fließenden Wasser ab, bevor er sie erneut ansetzte.
    Meta raffte die Decke vor der Brust zusammen und nahm den Anblick in sich auf, denn sie befürchtete, später keinen direkten Blick, von Angesicht zu Angesicht, mehr wagen zu können - nicht nach dieser Nacht. Sollte sie die Neugierde auch noch so sehr quälen.
    Die Art, wie dieser halbnackte Mann sich vor dem Spiegel rasierte, irritierte sie. Sie versuchte, sich diesen Anblick als Gemälde vorzustellen. Kein Bild, für das ihre Kollegen einen  Markt gesehen hätten: zu altmodisch und auch einen Tick zu archaisch, eine Art rauer Eros.Was konnte man heutzutage mit einem so antiquierten Bild von Männlichkeit schon anfangen?, hörte sie sie philosophieren. Die Männer, mit denen sich Meta für gewöhnlich umgab, waren von einem ganz anderen Schlag: gebildet, schmal und biegsam - Männer von Welt, moderne Männer eben.Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von diesem seltsamen Exemplar lösen.
    Der Mann hatte dunkles, etwa streichholzkurzes Haar, das vor Nässe strubbelig abstand. Beim Rasieren vernachlässigte er die Konturen seiner Koteletten, so dass sie eigentlich viel zu lang und zu breit waren. Die Gesichtszüge waren ausgesprochen scharf geschnitten, hohe Wangenknochen, schwarze gerade Brauen und eine markante Nase dominierten das Gesicht. Die Augen standen eine Spur zu dicht beisammen, und gemeinsam mit dem schwarzen Wimpernkranz strahlten sie eine Eindringlichkeit aus, der Meta sich nicht entziehen konnte. Im Gegenteil - sie waren so aufsehenerregend, dass sie ihr einen Schauer über den Rücken jagten. Die untere Augenpartie war leicht geschwollen und dunkel verfärbt, was nach der letzten Nacht jedoch kein Wunder war. Das passte auch zu dem blassgrauen Film, der die natürliche Bräune der Hautfarbe abschwächte. Doch als der Mann den Kopf zur Seite drehte, erkannte Meta, dass es keineswegs nur Augenschatten waren. Unter dem linken Auge prangte ein Bluterguss, der von einer verschorften Platzwunde gekrönt wurde. Überrascht vom Anblick dieser Verletzung ließ Meta sich zurück ins Kissen
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