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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond
Autoren: Tanja Heitmann
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Prolog
Ende des Sommers
    Bei Tag war das Viertel dieser Stadt wie ausgestorben, die Straßen lagen verlassen da. Die Metalltüren waren geschlossen, Schaufenster hinter Gittern und Rollläden verborgen, und die Leuchtreklamen sahen dunkel und unscheinbar aus. Nur der Müll, den der Reinigungsdienst nach der letzten Nacht übersehen hatte, verriet etwas über das zweite Gesicht dieser Gegend: Hastig angebrachte und sogleich wieder heruntergerissene Plakate und Flyer lagen nun, mit Schuhabdrücken verziert, im Rinnstein. Wer noch genauer hinsah, entdeckte auch andere verräterische Spuren, wie etwa den abgebrochenen Absatz eines High Heels oder zusammengeknüllte Zettel mit Telefonnummern.
    Erst in der Dämmerung erstrahlte das Straßengeflecht in seinem Glanz, wie eine nachtblühende Blume. Dann wurden mit einem Mal Palmen in Kübeln neben Eingänge gekarrt; die Leuchtröhren der Reklametafeln sprangen mit einem Surren an und tauchten Schaufenster in buntes Licht. Vor einigen Bars wurden Stühle und Tische aufgestellt, um die weichende Hitze des Tages noch auszunutzen. Schmal geschnittene Bistros, die bestenfalls sechs Tische aufweisen konnten, schlossen erst zu dieser Zeit ihre Türen auf, würden sie aber bis tief in die Nacht offen stehen lassen. Musikanlagen wurden aufgedreht, und von überallher dröhnten die unterschiedlichsten Melodien und Rhythmen, die sich zu einem ganz  eigenen Sound zusammenfügten: dem einer vielversprechenden Nacht.
    Je weiter der Abend voranschritt, desto mehr füllten sich Straßen und Gehwege, bis kaum noch ein Durchkommen möglich war. Obwohl sich die Menschen in dieser Stadt nur äußerst ungern im Freien aufhielten, blieben sie dank der ausgelassenen Stimmung einfach draußen stehen, wenn die Lokale überfüllt waren.Vorbeifahrende Wagen kamen bestenfalls in Schrittgeschwindigkeit voran, und jeder Feierfreudige, der die Location wechseln wollte, musste sich durch eine Vielzahl von Leibern hindurchschlängeln. Einige standen in kleinen Gruppen miteinander plaudernd beisammen, andere starrten nur stumm dem Rauch ihrer Zigaretten hinterher. Sie alle verstopften die Wege, woran sich jedoch niemand zu stören schien. Vielmehr genossen die Nachtschwärmer die Muße, einander genau zu begutachten. Hier wurde ein verächtlicher Blick erteilt, dort ein einnehmendes Lächeln verschenkt. Jedem schien nur allzu bewusst, dass sich mit dieser Nacht der Sommer verabschiedete. Der Wind hatte aufgefrischt, und auch wenn er noch sanft über nackte Arme und Beine strich, so trug er bereits eine erste Ahnung von Kühle und fallendem Laub mit sich. Wie es aussah, wollte jeder noch einmal die Gelegenheit nutzen, seine braungebrannten Schultern vorzuführen, und sich dem Gefühl hingeben, das die Hitze des Tages hinterlassen hatte: eine wohlige Erschöpfung, gepaart mit diesem seltsamen Prickeln, dem Versprechen auf angenehme Möglichkeiten.
    Immer mehr Menschen fanden ihren Weg in dieses Viertel, angelockt von der guten Stimmung. Ein ungewöhnlicher Zustand in einer Stadt, die oft wie ausgestorben wirkte. Selbst bis in jene abseitsliegende Seitengasse drang die ausgelassene Atmosphäre. Der Wind trug Stimmen und Musikfetzen mit sich, während der Asphalt vom Beat der Bassläufe und Drums bebte. Ein Liebespaar schreckte nicht einmal der leicht moderige Geruch ab, der sich trotz der wochenlangen Wärme zwischen den eng stehenden Häuserwänden gehalten hatte. Einander umringend, ganz und gar in ihr Spiel vertieft, hatten sie sich in die Gasse zurückgezogen, fort von neugierigen Augen.
    Das Paar drängte sich in die Dunkelheit, leise lachend. Die Frau trug ein rotes Seidentuch um den Hals, ein Kontrast zu ihrer eher zurückhaltenden Erscheinung. Gerade zog ihr Liebhaber daran, bis ihr Hals freilag und er seine Lippen über ihre Haut tanzen lassen konnte. Genießerisch neigte die Frau den Kopf zur Seite und wollte schon die Augen schließen, als sie etwas bemerkte: Vollkommen lautlos löste sich aus der Dunkelheit der Schattenriss eines mächtigen Raubtieres. Das Tier duckte sich, spannte seine Muskeln zum Sprung, zum Angriff an. Doch mitten in der Bewegung verharrte es und warf den mächtigen Schädel herum, als habe es einen Ruf vernommen.
    Als die Frau endlich den erlösenden Angstschrei ausstieß, jagte der Schatten bereits wie von Sinnen um die Häuserecke, als habe er ein klares Ziel vor Augen.
     

Kapitel 1
Lockende Schatten
    Die Süße des Cocktails hatte sich auf ihre Lippen gelegt, und obwohl
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