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Wintermörder - Roman

Titel: Wintermörder - Roman
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag
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vererbbar? Seit wann durfte man ein Kind für die Fehler seiner Großeltern, ach was, Urgroßeltern leiden lassen? Es gab keine Gerechtigkeit. Das war es, was der Mann vor ihr nicht kapierte, die alte Frau in dem Bett einfach nicht verstand.
    »Das ist nicht gerecht!«, rief sie. »Nicht gerecht. Das ist Rache!«
    »Nenne es, wie du willst«, antwortete er ruhig. »Es ist der letzte Wunsch meiner Mutter, seit ich ihr von Frederik erzählt habe.«
    »Nehmen Sie nicht seinen Namen in den Mund!«, brüllte Denise. »Sie haben nicht das Recht.«
    »Es gibt kein Recht, das die Dinge sonst in Ordnung bringt. In dieser Welt muss man manchmal das Recht selbst in die Hand nehmen.«
    Was? Was hatte er gesagt?
    Es gab nur einen Weg, das Ganze zu beenden. Zum Abschluss zu bringen. Das Unrecht auszulöschen.
    Ihre Hand griff nach der Handtasche, in der die Waffe steckte.
    Sie umschloss sie fest und zog sie hervor.
    Er hatte ihr Frederik genommen. Ihn von der Straße weggeholt.
    Er hatte ihre Großmutter umgebracht. Die Dinge hörten nicht auf. Es ging immer so weiter. Nein, sie wollte nichts mehr davon wissen. Wenn er das Recht aufhob, dann konnte sie das auch. Ihr Leben würde sowieso nie wieder so sein wie vorher.
    Ihr Finger hielt den Abzug des Revolvers. Er fühlte sich kühl an und leicht. Was hatte Mike in seinem Abschiedsbrief geschrieben?
    Der Tod ist die einzige Freiheit, die wir haben.
    Mateckis Mund bewegte sich. Er sagte etwas zu ihr. Er war ruhig. So vollkommen überzeugt, dass er im Recht war. Dass sein Wahnsinn Gerechtigkeit bedeutete. Sie hörte nicht mehr zu. Und es genügte nicht, sich nur vorzustellen, wie es war, wenn die Kugel in seinen Kopf drang. Sie wollte, dass Ruhe war. Sie wollte nicht mehr, dass jemand die Macht hatte, in ihr Leben einzugreifen.
    Sie hörte ihn und hörte ihn nicht. Die Worte wurden zum bloßen Klang seiner Stimme. Denise schloss die Augen und rannte. Sie rannte, rannte, rannte. Ihre Muskeln spannten sich. Jeder Zentimeter brachte sie vorwärts.
    Dann ein Knall, der in ihren Ohren ein Dröhnen hinterließ.
    Matecki hörte auf zu sprechen. Von einem Moment zum anderen fiel er zu Boden.
    Es war so einfach.
    Ruhe, Ruhe, Ruhe war das Gefühl, das sich in Denise ausbreitete.
    Die Pistole glitt ihr aus der Hand und fiel mit einem dumpfen Schlag nach unten. Erst jetzt bemerkte sie, dass Frederik in der Tür stand. Was sagte er?
    »Er hat gesagt, er sei mein Großonkel und er würde mich zu meiner Urgroßmutter bringen. Sie sei krank und möchte mich kennen lernen. Und da bin ich mitgegangen. Oma Henriette hat immer gesagt, die Familie ist das Wichtigste. Vergiss das nie, Frederik. Man darf sie nie im Stich lassen.«
    Er deutete auf Zofia. »Sie ist meine Urgroßmutter.« Sein Oberkörper wankte hin und her. »Sie ist meine Urgroßmutter, meine babcia.«
    In der Ferne heulte eine Sirene.
    Schritte, Türen schlugen, Stiefel.
    Laute Befehle.
    Als sie wieder zu sich kam, stand Myriam über sie gebeugt und weinte. »Du hättest das nicht tun dürfen.«

Zofia
Montag, 1. Oktober 1945, Krakau
    Am Hauptbahnhof steige ich aus dem Zug wie früher, wenn ich aus den Ferien zurückkam, die wir bei den Großeltern in Lwów verbrachten. Als ich sehe, dass der Bahnhof noch steht, schießen mir vor Aufregung die Tränen in die Augen. Ich bin seit drei Tagen unterwegs und habe nicht eine Stunde geschlafen. Zu aufgeregt war ich, zu eng saßen wir in den Abteilen, und zu viele Geschichten musste ich hören. Dazu die Angst und die Freude, was wird mich zu Hause erwarten, und diese quälende Sehnsucht danach, was ich zurücklasse. Im Zug saß einer, der hatte eine Kugel im Kopf, die nicht entfernt werden kann. Ich habe eine in meinem Herzen.
    Ich habe Angst, daher gehe ich vom Bahnhof aus nicht direkt nach Hause, sondern durch die Planty entlang in Richtung der Pijarskastraße. Der Weg ist ganz goldfarben in der Abendsonne. Die Bäume stehen noch, der Kies knirscht unter den Stiefeln, die ich im Lager auf einem Haufen gefunden habe, das Gras ist grün, und Tauben sitzen auf den Fenstersimsen. Auf der Straße fahren Pferdefuhrwerke, auf denen alte Männer sitzen. Mein Krakau ist unverändert, als hätte nie ein Krieg stattgefunden. Als ich vor dem Czartoryjski Museum stehe, stelle ich mir vor, dass ich wieder meinen Vater abhole wie damals.
    Ich hatte ihn begleitet. Er war zum Museum gegangen, um die Schreibmaschine, seine Papiere und Bücher zu holen. Die Soldaten kamen vom Hauptmarkt. Es waren nicht viele. Sobald
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