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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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bestraft, dass jene schweigend und mit den Händen in den Taschen ihre Zeit zu vertrödeln gezwungen waren, während Pearly seiner rätselhaften »Farbengravität« frönte, wie er es selbst nannte. Da die Banditen sich schlecht bei ihrem Anführer beschweren konnten, ließen sie ihren Zorn stets an den braven Handwerkern aus, indem sie ihnen bei passender Gelegenheit eine Tracht Prügel verabreichten.
    Eines Tages zu Beginn eines Bandenkrieges marschierten Pearly und sechzig seiner Short Tails wie eine kleine florentinische Armee durch die Straßen der Stadt. Die Banditen trugen nicht nur ihre üblichen Waffen am Körper versteckt, sondern sie hatten auch Gewehre, Handgranaten und sogar Säbel mitgebracht. Vor lauter Kampfbereitschaft waren sie so erregt, dass ihre Herzen heftig klopften und ihre Augen blitzten. Auf halbem Weg zum Schlachtfeld erspähte Pearly zwei Anstreicher, die mit ihren Pinseln eine frische Lackschicht auf den Türrahmen einer Kneipe klatschten. Pearly ließ seine kleine Truppe anhalten. Dann ging er mit den Augen ganz nah an die grüne Ölfarbe heran, schnüffelte und verharrte geistesabwesend eine ganze Weile in dieser Pose, bis er erfrischt, zuinnerst bewegt und staunend zurücktrat. Ganz betört vom Farbenzauber sagte er zu den beiden Malern: »Tragt dicker auf! Die Farbe glänzt so schön, wenn sie nass ist. Das sind unvergessliche Augenblicke!« Zur Freude des Kneipenbesitzers verpassten die beiden Maler der Tür einen zweiten Anstrich. Auch Pearly war zufrieden. »Eine schöne Landschaft«, kommentierte er, »wirklich schön. Ich muss dabei an die Landsitze von reichen Leuten denken. Dort dürfen keine Schafe grasen, sodass die Grünflächen immer makellos sind. Macht nur tüchtig weiter so! In ein bis zwei Tagen komme ich wieder vorbei und schau mir an, wie der trockene Lack aussieht.« Nach diesen Worten zog er mit seinen Männern in die Schlacht. Der Anblick der Farbe hatte ihm Kraft verliehen.
    Pearly ließ sich von seinem Farbentick auch dazu verleiten, Gemälde zu stehlen. Mit seinen Männern plünderte er die angeblich so sicheren Tresore hoch angesehener Kunsthändler und so manchen der schwerbewachten Paläste an der oberen Fifth Avenue. Dort stieß die Bande auf die begehrtesten Werke, Bilder im Wert von zigtausend Dollar, die bei jedem Anlass von der sensationslüsternen Pressemeute umlagert wurden. Über solche Meisterwerke hätte kein Kunstsachverständiger ein abschätziges Wort zu sagen gewagt. Sie waren zumeist in Privatyachten oder -flugzeugen aus Europa herübergebracht worden, unter den wachsamen Blicken von mindestens drei Pinkerton-Detektiven. Pearly wusste genau, wo er auf gute Beute hoffen konnte, denn er las aufmerksam die Zeitungen und studierte sorgfältig die Kataloge der Auktionshäuser.
    Eines Nachts kamen seine besten Einbrecher mit fünf zusammengerollten Leinwänden von Knoedler’s zurück. Pearly brachte es nicht über sich, bis zum Morgen zu warten. Er befahl, die Gemälde zu glätten und zwei Dutzend Sturmlaternen sowie mehrere große Spiegel herbeizuschaffen. Damit sollte ein riesiger Dachspeicher, das derzeitige Hauptquartier der Bande unten im Hafenviertel, erleuchtet werden. (Ähnlich wie Guerilleros wechselten die Short Tails häufig ihren Standort.)
    Pearly ließ die Gemälde auf hohe Staffeleien stellen und mit einem Samtvorhang verdecken. Die Lampen wurden entzündet und die Spiegel so zurechtgerückt, dass der helle Lichtschein genau auf die Stelle fiel, wo die fünf Gemälde hinter dem Samt auf ihre Enthüllung warteten. Mit einem Kopfnicken gab Pearly das Zeichen.
    »Was soll das!«, entfuhr es ihm, als der Vorhang beiseitegezogen wurde. Unwillkürlich zuckte seine Hand zu der Pistole, die er im Gürtel trug. »Habt ihr etwa nicht gestohlen, was ich euch aufgetragen hatte?«
    Wie von Sinnen blätterten die Einbrecher in Auktionskatalogen und verglichen die von Pearly rotumrandeten Titel mit den kleinen Messingschildern, die sie zusammen mit den Bilderrollen gestohlen hatten. Sie passten, davon konnte sich Pearly selbst überzeugen.
    »Das verstehe ich nicht«, sagte er und beäugte die kleine Kollektion großer und berühmter Namen. »Sie sind lehmfarben, schwarz und braun! Kein Licht und kaum Farbe! Wie kann man nur in Schwarz und Braun malen?«
    »Kein Ahnung, Pearly«, meinte Blacky Womble, sein Vertrauter und Stellvertreter.
    »Warum? Warum haben sie so gemalt?«, wiederholte Pearly fassungslos. »Und weshalb sind all die reichen Leute
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