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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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Bewegung und trabte an geschlossenen Theatern vorbei, an Kontoren und Bootshäusern, deren verschneites Gebälk an einen winterlichen Wald erinnerte. Dunkle Fabrikhallen und menschenleere Parks säumten den Weg des Hengstes, dann eine Reihe kleiner Häuser, aus deren Kaminen der Rauch frisch entzündeter Herdfeuer stieg und die Luft mit der tröstlichen Ahnung von Wärme und Geborgenheit erfüllte. Doch schon wenig später bot sich dem Ausreißer hinter ein paar erleuchteten Kellerfenstern der abstoßende Anblick eines Obdachlosenheimes, in dem allerlei Großstadtgesindel und zahlreiche Invaliden herumlungerten. In der Nähe des Marktes wurde plötzlich eine Tür aufgestoßen, und ein Eimer voll kochend heißen Wassers landete zischend und dampfend im Schnee der Straße. Der Hengst scheute und machte trippelnd ein paar Schritte zur Seite. Fast wäre er in einer Toreinfahrt über die Leiche eines Mannes gestolpert, dessen steinhart gefrorener, in Lumpen gewickelter Körper die nüchterne Sachlichkeit eines Sarges hatte.
    Von stämmigen Gäulen gezogene Schlitten und Wagen fuhren vom Markt her in alle Himmelsrichtungen davon, ihren irgendwo in der Stadt gelegenen Zielen entgegen. Der Hengst machte jedoch einen Bogen um diese geschäftige Gegend, denn dort herrschte schon bei Tagesanbruch ein ebenso reges Treiben wie zur Mittagszeit. Er hielt sich lieber in den ruhigen Seitenstraßen, wo riesige Gerüste die Lücken in der Häuserzeile füllten und von fieberhafter Bautätigkeit zeugten. Selten nur verlor er die neuen Brücken aus den Augen, die das fraulich schöne Brooklyn mit dem gönnerisch reichen Manhattan verbanden und das umliegende Land dem Zugriff der City näher brachten. Sie überspannten nicht nur die räumliche Entfernung über dem dunklen Wasser, sondern verknüpften auch die Träume der Menschen miteinander.
    Der Schweif des weißen Hengstes schwang hin und her, während er munter die stillen Boulevards und Avenuen entlangtrottete. Seine Gangart hatte etwas Tänzelndes, und das war nicht verwunderlich. Ein Pferd ist nicht nur ein schönes Tier, sondern es hat vor allem die bemerkenswerte Eigenschaft, dass es sich stets so bewegt, als folge es den Klängen einer Musik. Mit einer Zielstrebigkeit, die den Hengst selbst in Erstaunen versetzte, trabte er nach Süden, dem Battery Park entgegen. Er war schon von weitem am Ende einer langen, engen Straße als ein weiß überzogenes Feld zu erkennen, über das quer die Schatten hoher Bäume fielen.
    Das Wasser des Hafens nahm im Licht des jungen Tages verschiedene Färbungen an; es wiegte sich in Schichten aus Grün, Silber und Blau. Jenseits des Hudson, am Ende dieses regenbogenartigen Gefunkels, erhob sich über dem Horizont hinter einem weißen Dunstschleier die gewaltige Kulisse einer Stadt. Die aufgehende Sonne tauchte sie in einen blassgoldenen, sich allmählich vertiefenden Widerschein, sie gaukelte dem Auge wabernde und sich brechende Hitzewellen vor. Dort drüben hätten ebenso gut tausend Städte wie die Schwelle zum Himmel liegen können.
    Der Hengst war stehen geblieben. Seine Augen füllten sich mit goldenem Licht. Kleine Dampfwolken entströmten seinen Nüstern, während er aus der Ferne das atemberaubende Schauspiel betrachtete. Seine Reglosigkeit gab ihm das Aussehen einer Statue. Unverwandt war sein Blick auf die goldene Lohe gerichtet, die über dem Bett aus Blau brannte. Welche Vollkommenheit! Kurzerhand entschloss er sich, jenen Ort aufzusuchen.
    Er setzte sich in Bewegung, musste jedoch schon kurze Zeit später feststellen, dass der Zugang zum Battery Park durch ein hohes, eisernes Tor verschlossen war. So machte er denn kehrt und versuchte es an anderer Stelle, doch wieder stand er alsbald vor einem Tor gleicher Beschaffenheit. Das wiederholte sich stets aufs Neue, mochte er auch alle möglichen Straßen probieren. Inzwischen wurde der goldene Glanz in der Ferne immer strahlender, bis er die Hälfte der Welt erglühen ließ.
    Der Hengst, gefangen im Labyrinth der Straßen, wollte noch immer nicht aufgeben. Der Battery Park, jene weite, weiße Fläche, schien ihm der einzige Weg zu dem goldenen Licht zu sein. Es zog ihn so unwiderstehlich dorthin, als sei es seit seiner Geburt seine Bestimmung gewesen. Verzweifelt galoppierte er Alleen und Zufahrten entlang, durch schneebedeckte Parks und über verschneite Plätze. Nie verlor er das sich noch immer vertiefende Gold aus den Augen.
    Am Ende der letzten Straße, die ins Offene mündete,
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