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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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ihnen bei einem Brand das Leben verlor, aber welch herrliche Bewährungsproben bot ihnen jede Katastrophe!
    Peter schloss sich dem allgemeinen Applaus an, als sich einige der Feuerwehrmänner doch noch an einem Seil emporhangelten und das Deck des Schiffes betraten. Während er zuschaute, schälte er eine Esskastanie nach der anderen und teilte sie mit dem Pferd. So verstrich eine halbe Stunde. Das Schiff hatte inzwischen bedrohliche Schlagseite. Ein Schlepper bahnte sich seinen Weg durch die großen Eisschollen, um die erschöpften Feuerwehrleute aufzunehmen, die an Deck des Fährschiffes standen und sich ratlos umblickten, denn auch das rettende Seil war inzwischen verbrannt. Das Schiff konnte jeden Augenblick untergehen, und dann war ihnen der Tod durch Ertrinken gewiss.
    Aus dem Augenwinkel – bei Dieben eine hoch entwickelte Art der Wahrnehmung – sah Peter zwei Automobile, die sich rasch näherten. Eigentlich war daran nichts Auffälliges, denn die Straße war ziemlich befahren. Aber diese beiden Wagen kamen, in kurzem Abstand voneinander, verdächtig schnell heran – und sie waren vollgestopft mit Mitgliedern der Short-Tail-Bande! Als Peter sich auf den Rücken des Hengstes schwang, fiel sein Blick auf den Telegrammboten Beals, der in einiger Entfernung vor Aufregung kleine Hüpfer machte. Gewiss würden sich die Short Tails erkenntlich zeigen, indem sie ihn zu einer unmäßigen Prasserei und zu einem Abend im Varieté einluden.
    Peter machte sich im Galopp nach Süden davon. Die brennende Fähre war vergessen, als er breite Alleen entlangpreschte, vorbei an Fabriken, Molkereien, Brauereien, Rangierbahnhöfen, Gastanks, ärmlichen Wohnhäusern, kleinen Revuetheatern, Gerbereien und den turmhohen, grauen Pylonen eiserner Brücken. Die Short Tails waren zwar wieder einmal übertölpelt und hatten einstweilen das Nachsehen, aber sie würden unverzüglich mit ihren Automobilen die Verfolgung aufnehmen. Peter fühlte sich jedoch in Sicherheit. Er jagte auf seinem Hengst mit so atemberaubender Geschwindigkeit gen Süden, dass er bisweilen zu fliegen meinte.

Pearly Soames
    I m gesamten Universum gab es nur ein einziges Foto von Pearly Soames. Er war darauf zu sehen, wie er von fünf Polizeioffizieren festgehalten wurde. Vier hatten ihn an Armen und Beinen gepackt, während der fünfte seinen Kopf umklammerte. So drückten sie ihn in halb liegender Stellung auf einen Stuhl. Sein Gesicht war rund um die fest zusammengekniffenen Augen zu einer wütenden Fratze verzogen. Fast hätte man beim Betrachten dieses Schwarzweißfotos glauben können, das wütende Gebrüll aus Pearlys Kehle zu vernehmen. Der riesige Polizist hinter ihm hatte es offensichtlich schwer, das Gesicht des Häftlings der Kamera zuzudrehen. Seine Finger hatten sich in Pearlys Haar und Bart verkrallt, als ginge es darum, eine Giftschlange zu bändigen. Im selben Augenblick, als der Magnesiumblitz aufzuckte, war im Hintergrund ein Garderobenständer von rechts nach links gekippt und für alle Zeiten im Bild festgehalten worden, wie der stürzende Verlierer eines Kampfes oder der Zeiger einer großen, reich verzierten Turmuhr, der auf die Zahl »2« zeigte. Pearly war nicht auf eigenen Wunsch abgelichtet worden, das war offenkundig.
    Seine Augen blickten scharf wie Rasiermesser und kalt wie weiße Diamanten. Sie waren blass und silbrig durchscheinend, aber zugleich ging ein solches Leuchten von ihnen aus, dass die Leute sagten: »Wenn Pearly die Augen öffnet, ist es wie elektrisches Licht.«
    Sein Gesicht wurde von einer Narbe verunziert, die von einem Mundwinkel bis zum Ohr verlief. Wer sie betrachtete, hatte unwillkürlich das Gefühl, als ob ihm mit einem scharfen Messer ein tiefer Schnitt zugefügt würde. In der Tat hatte Pearlys Narbe etwas von einer weißlichen, gezackten Furche aus kühlem Elfenbein. Er trug sie seit seinem vierten Lebensjahr, genau gesagt seit dem Tag, an dem sein Vater versucht hatte, ihm die Kehle durchzuschneiden.
    Natürlich ist es böse, ein Verbrecher zu sein. Alle Welt weiß das und kann es beschwören. Kriminelle stören den Gang der Dinge, aber andererseits sorgen sie auch dafür, dass alles im Fluss bleibt. Tatsächlich könnte man geltend machen, dass eine Stadt wie New York ohne die Legionen von finsteren Gesellen und deren unerklärliche Abneigung gegen Recht und Ordnung weniger hell im Glanz der eigenen Rechtschaffenheit erstrahlen würde. Ja, man könnte sogar die Behauptung aufstellen, dass Bösewichter eine
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