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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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jedoch selbst so gerissen und erfahren, dass sie sich jeden Winkel des gigantischen Labyrinths zunutze machten. Sie bewegten sich mit der Wendigkeit von Ratten in einem komplizierten Netzwerk unterirdischer Gänge. Ihre Schnelligkeit verlieh ihnen die Aura der Unentrinnbarkeit, ähnlich dem nie endenden Fluss der Zeit, der Suche des Wassers nach der tiefsten Ebene und der Gefräßigkeit des Feuers. Den Short Tails auch nur für eine einzige Woche entkommen zu sein konnte bereits als eine Leistung gelten, die ans Wunderbare grenzte, doch Peter war schon drei Jahre lang das Hauptziel dieser gnadenlosen Verfolger. Da er nun auch noch die Polizei am Hals hatte, entschloss er sich, Manhattan für eine Zeitlang den Rücken zu kehren. Sollten sich die beiden Greifarme der Zange doch gegenseitig zwicken! Wenn die gegnerischen Lager auf der Jagd nach ihm, Peter, kollidierten, dann verschaffte ihm der Zusammenprall vielleicht drei oder vier Monate Ruhe und Freiheit. Also nichts wie fort! Er entschloss sich, den Muschelfischern im sumpfigen Marschland von Bayonne einen Besuch abzustatten. Sie würden ihm und dem Hengst auf einem trockenen Fleckchen Erde Unterschlupf gewähren, das wusste er, denn sie waren es gewesen, die ihn einst gefunden und in der Art von wohlgesonnenen Wölfen aufgezogen hatten. Den Short Tails waren sie an Wildheit und Kampfkraft weit überlegen, weshalb jene es schon lange nicht mehr wagten, die Riemen ihrer Ruderboote in Gewässer zu tauchen, die zum weitläufigen Herrschaftsbereich der Sumpfmänner gehörten. Denn wer ihnen in die Hände fiel, musste damit rechnen, augenblicklich enthauptet zu werden. Niemand hatte sich jemals gegen sie durchsetzen können, denn nicht nur waren sie schier unüberwindliche Streiter, die nach Belieben auftauchten und verschwanden, sondern ihr Reich war zudem nur halb von dieser Welt. Jeder, der sich ohne ihre Billigung dorthin wagte, lief Gefahr, sich für immer in dem tosenden Wolkenmeer zu verlieren, das sich über die trügerisch glitzernden Wasser wälzte.
    Vor langer Zeit hatten die Behörden des Staates New Jersey den Versuch gemacht, die Sumpfmänner in den breiten Strom bürgerlichen Daseins einzugliedern, mit Gesetzen, Steuern und dergleichen mehr. Doch dreißig Polizisten und Detektive der Pinkerton-Agentur waren, einer nach dem anderen, hinter der blendend weißen Wolkenbank verschwunden, die verblüffend schnell ihren Standort wechselte. Der Gouverneur war des Nachts in seiner Villa in Princeton von Unbekannten in zwei Teile geschnitten worden. Eines der Fährschiffe flog bei Weehawken nach einer Explosion so hoch in die Luft wie ein Haus mit zwanzig Stockwerken. Einem riesigen Feuerball gleich war es in die Fluten zurückgestürzt, und im Umkreis von fünfzig Meilen hatten die Fensterscheiben geklirrt.
    Peter war sich darüber im Klaren, dass ihn nach einiger Zeit die Lichter von Manhattan jenseits des Flusses trotz aller Gefahren unwiderstehlich aus seinem Versteck locken würden. Die Sumpfmänner lebten ihm zu nah an dem geheimnisumwitterten Wolkenwall. Sie waren wortkarge, wachsame und unergründliche Gesellen, an denen die Zeit so schnell vorbeizustreichen schien wie eine Landschaft an einem fahrenden Zug. Ein typischer Sumpfmann hatte in seiner Rätselhaftigkeit etwas von einem Urmenschen ferner Zeitalter. Er verstand sich darauf, aus der Leber toter Fische das Orakel zu lesen und redete mit flinkem Zungenschlag eine Sprache, deren Worte an seltsame Runenzeichen gemahnten. Für Peter Lake, der sich an das Klimpern der Pianos und die hübschen, nur scheinbar so schwer zu erobernden Mädchen der Großstadt gewöhnt hatte, war ein längerer Aufenthalt in den Sümpfen keine leichte Sache. Aber es gehörte zu seinem Wesen, dass er sich notfalls nach der Decke strecken konnte. Stets war er bereit, sich vom Leben auf die Probe stellen zu lassen.
    Auch diesmal würde er wohl nur eine Woche, höchstens zehn Tage bleiben, abends noch vor Mondaufgang schlafen gehen, tagsüber in Eislöchern fischen, zu den Mahlzeiten Unmengen gerösteter Austern verschlingen und in einem kleinen Boot durch die eisfreien, salzigen Brackwasser staken. In den Nächten würde er sich mit der einen oder anderen Frau nackt auf dem Lager wälzen und sich mit ihr in der atemlosen Schönheit wilder, rauschhafter Liebesakte vereinen, während das ungebärdige Winterwetter die kleinen, im Schilf verborgenen Hütten der Sumpfbewohner schüttelte und Schneestürme alle Wege über die
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