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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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ich arbeite daran.
    Ich fange langsam an, mich nach meiner Stärke zu beurteilen, nicht nach den Kilos. Manchmal auch danach, wie oft ich lächele.
    Ich lese viel. Emerson, Thoreau, Watts. Sonya Sanchez; Elijah hatte Recht, sie ist unglaublich. Die Bibel, ein paar Seiten. Die Bhaghavad-Gita. Dr . Seuss, George Santayana. Ich schreibe unbeholfene Gedichte, ganz spontan. Als alle von unserem Korridor einen Ausflug ins Restaurant machen, esse ich eine Waffel mit Sirup und bestelle Nachschlag.
    Man bringt mir Bridge bei. Poker interessiert mich nicht. Spiele mit Wetteinsatz sind out. Sonst ist alles möglich.
    Mom, Dad und Jennifer kommen zu Besuch. Wir reden und reden, bis der Damm bricht und Tränen mit ein bisschen Blut fließen, weil wir alle so wütend sind. Aber keiner rennt bei unseren Sitzungen hinaus. Keiner beschimpft den anderen. Wir wechseln einander dabei ab, uns durch den Schlamm von Jahren zu schaufeln. Manchmal denke ich, meine Haut könnte jeden Moment in Flammen aufgehen. Ich bin sauer auf meine Eltern. Ich bin sauer auf uns. Ich bin sauer, dass ich mein Gehirn verhungern ließ, dass ich nachts zitternd in meinem Bett gesessen habe, anstatt zu tanzen oder Gedichte zu lesen oder Eiscreme zu essen oder einen Jungen zu küssen oder vielleicht auch ein Mädchen mit sanften Lippen und starken Händen.
    Ich lerne, wütend zu sein und traurig und einsam und fröhlich und aufgeregt und ängstlich und glücklich. Ich lerne, alles zu schmecken.
    Diesmal belüge ich die Krankenschwestern nicht. Ich streite nicht mit ihnen und werfe nichts und schreie nicht. Ich streite mit den Ärzten, weil ich nicht an ihre Art von Magie glaube, nicht hundertprozentig, und das ist etwas, worüber ich reden muss. Sie hören zu. Machen sich Notizen. Schlagen vor, dass ich die Dinge aus meiner Perspektive aufschreibe. Immerhin halten sie mich nicht für verrückt, weil ich Geister sehe.
    Mein Gehirn reckt und streckt sich und gähnt, während sie die Pillen absetzen. Es wächst, wenn ich es füttere.
    Wieder ein neues Kalenderblatt. Jetzt nicht mehr März, sondern April. Dr . Parker kommt mich besuchen. Sie und die ungeduldige Ärzteschaft basteln an einem Übergangsplan, damit ich von der Krankenhaus-Lia wieder zur echten Lia werde.
    »Wen kümmert’s, ob wir es Depression oder Geistererscheinung nennen?«, sagt sie. »Du hast nicht mehr geritzt, seit du hier bist. Du redest. Du isst. Du blühst auf. Einzig und allein darauf kommt es an.«
    ***
    Cassies Eltern kommen eines Tages, als die Krokusse gerade aufgehen. Wir weinen.
    Ich vermisse Cassie so sehr, dass ich immer nur kurz und traurig an sie denken kann. Sie taucht ab und an auf, sagt aber kaum etwas. Meistens schaut sie mir beim Stricken zu. Ich stricke einen Pullover für Mom.
    Jeden Tag schreibe ich einen Brief an Emma. Als sie endlich zu mir darf, bringt sie mir eine Genesungskarte mit, auf der alle in ihrer Klasse unterschrieben haben. Ihr Gips ist wieder ab, aber Softball spielen will sie nicht. Dieses Jahr ist der angesagte Sport Lacrosse.
    Ihre Umarmung macht mich stark genug, um die ganze Welt auf meinen Schultern zu tragen. Sie möchte, dass ich bald nach Hause komme.
    Ich bin fast so weit.
    Ich spinne all die Seidenfäden meiner Geschichte und webe daraus den Stoff meiner Welt. Aus der kleinen tanzenden Elfe wurde eine Holzmarionette, an deren Fäden unachtsame Menschen zogen. Ich habe die Kontrolle verloren. Das Essen fiel mir schwer. Das Atmen fiel mir schwer. Zu leben war am schwersten.
    Ich wollte die bitteren Pillen des Vergessens schlucken.
    Genau wie Cassie.
    Wir klammerten uns die ganze Zeit aneinander, zwei Verirrte im Dunkeln, die ewig im Kreis liefen. Sie wurde zu müde und schlief ein. Ich schüttelte die Dunkelheit irgendwie ab und holte mir Hilfe.
    Ich spinne und webe und stricke meine Worte und Visionen, bis langsam ein Leben daraus wird.
    Es gibt kein magisches Heilmittel, nichts, was all das für immer verschwinden lässt. Es gibt nur kleine Schritte nach vorn. Ein leichterer Tag, ein unerwartetes Lachen, ein Spiegel, der keine Rolle mehr spielt.
    Ich taue auf.
    Danksagung
    Ins Land der Wintermädchen reiste ich aufgrund der zahllosen Zuschriften von Lesern, die mir von ihren Problemen mit Essstörungen, Selbstverletzung und Verlassenheitsgefühlen berichteten. Ihr Mut und ihre Ehrlichkeit waren mir Wegbereiter und Hilfe, um zu Lia zu finden und ihre Gebrochenheit zu begreifen. Ihre Geschichte hat keine realen Personen zum Vorbild, wurde jedoch
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