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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei n …
    Irgendwer hat mir gerade die Augenlider abgerissen.
    »Gott sei Dank bist du stärker, als sie es war.« Jennifer trinkt ihren Kaffee aus und wischt sich die Krümel aus den Mundwinkeln.
    Mit einem Flüstern gleitet das Messer in den Messerblock. »Ja.« Ich greife nach einem Teller, von dem jetzt Blut und Knorpel abgeschrubbt sind. Zehn Pfund wiegt er.
    Jennifer klickt die Keksdose zu. »Ich muss nachher noch zu einem Schlichtungsgespräch. Außergerichtliche Einigung. Kannst du Emma zum Fußball fahren? Das Training geht um fünf los.«
    »Auf welchem Platz?«
    »Richland Park, du musst am Einkaufszentrum vorbei und dann noch ein Stück weiter. Hier.« Sie gibt mir den schweren Kaffeebecher mit dem blutroten Lippenstiftmond am Rand. Ich stelle ihn auf der Anrichte ab und räume einen Teller nach dem anderen aus der Maschine, während meine Arme zittern.
    Emma kommt in die Küche und stellt ihre Schale, noch halb voll mit himmelblauer Milch, neben die Spüle.
    »Hast du an die Kekse gedacht?«, fragt sie ihre Mutter.
    Jennifer schüttelt die Plastikdose. »Wir sind spät dran, Schatz. Hol deine Sachen.«
    Emma stapft mit offenen Schnürsenkeln zu ihrem Rucksack hinüber. Eigentlich könnte sie noch schlafen, aber die Frau meines Vaters bringt sie dreimal die Woche früher in die Schule, zum Geigenunterricht und zur französischen Konversation. Schließlich ist es in der dritten Klasse höchste Zeit für Zusatzförderung.
    Jennifer steht auf. Ihr Rock spannt so sehr an ihren Schenkeln, dass man das Innenfutter der Taschen sehen kann. Sie versucht, die Falten glatt zu streichen. »Lass dich von Emma bloß nicht beschwatzen, ihr vor dem Training Chips zu kaufen. Wenn sie Hunger hat, soll sie einen Obstsalat essen.«
    »Soll ich sie dann auch abholen?«
    Jennifer schüttelt den Kopf. »Das übernehmen die Grants.« Sie nimmt ihren Mantel von der Rückenlehne des Stuhls, schlüpft in die Ärmel und knöpft ihn zu. »Iss doch einen Muffin! Ich hab auch Orangen gekauft, oder mach dir einen Toast oder Waffeln, wenn du wills t …«
    Ich will aber nichts wollen Ich brauche keinen Muffin (410), ich will weder eine Orange (75) noch Toast (87), und von Waffeln (180) kriege ich Erstickungsanfälle.
    Ich deute auf eine leere Schüssel, die neben lauter Pillendöschen und einer Packung Blaubeerpops auf der Anrichte steht. »Ich esse Pops.«
    Ihr Blick wandert automatisch zum Schrank, an den sie meinen Essensplan geklebt hatte. Er war bei den Entlassungspapieren dabei, als ich vor sechs Monaten hier einzog. Drei Monate später, an meinem achtzehnten Geburtstag, habe ich ihn abgehängt.
    »Das ist zu wenig für eine volle Mahlzeit«, sagt sie vorsichtig.
    Ich könnte die ganze Packung leer essen Ich werde wahrscheinlich nicht mal die Schüssel vollmachen. »Ich hab mir den Magen verdorben.«
    Wieder öffnet sie den Mund. Zögert. Ein saurer Hauch aus morgendlichem Atem mit Kaffeenote kommt durch die stille Küche herübergeweht und springt mich an. Sag es nich t … Sagsnicht.
    »Vertrauen, Lia.«
    Sie hat es doch gesagt.
    »Das ist hier das Thema. Gerade jetzt. Wir möchten nich t …«
    Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich Vertrauen und Thema in den Müllhäcksler stopfen und ihn den ganzen Tag lang laufen lassen.
    Ich hole eine extragroße Müslischüssel aus der Spülmaschine und stelle sie auf die Anrichte. »Ich. Komme. Klar. Okay?«
    Sie zwinkert zweimal und knöpft sich den Mantel fertig zu. »Okay. Verstehe. Mach die Schnürsenkel zu, Emma, und steig schon mal ins Auto.«
    Emma gähnt.
    »Warte.« Ich bücke mich und binde Emma die Turnschuhe. Mit Doppelknoten. Dann hebe ich den Kopf. »Ich kann das nicht ewig machen, klar? Dafür bist du schon viel zu alt.«
    Sie grinst und küsst mich auf die Stirn. »Klar kannst du, du Dummi.«
    Als ich aufstehe, macht Jennifer zwei unbeholfene Schritte auf mich zu. Ich warte ab. Sie ist ein blasser, dicker Nachtfalter, eingestäubt mit eierschalenfarbenem Kompaktpuder, bereit, dem Tag ins Auge zu blicken, und bewaffnet mit ihrer Banker-Aktentasche, ihrem Portmonee und dem Funk-Autoschlüssel für den geleasten Geländewagen. Nervös tritt sie von einem Bein aufs andere.
    Ich warte ab.
    Das ist der Moment, in dem wir uns umarmen oder küssen sollten – oder zumindest so tun sollten, als ob.
    Sie zieht den Gürtel enger um ihre Taille. »Hör z u … Lenk dich heute ein bisschen ab, okay? Versuch, nicht zu viel
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