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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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(35) und eine grüne Birne (121) (=172). Die Bissen kriechen mir die Kehle hinab. Dann nehme ich meine Vitamine und diese Tabletten für Verrückte, die verhindern, dass mein Hirn explodiert. Eine lange violette, eine dicke weiße, zwei klatschmohnrote. Alles spüle ich mit heißem Wasser hinunter.
    Hoffentlich wirken sie schnell. Auf meinem Handy wartet schon die Stimme eines toten Mädchens auf mich.
    004.00
    Das Treppensteigen dauert länger als gewöhnlich.
    Ich schlafe am hinteren Ende des Flurs, in dem kleinen Kabuff, das immer noch wie ein Gästezimmer eingerichtet ist. Weiße Wände. Gelbe Vorhänge. Das Bettsofa wird nie zusammengeklappt, der Schreibtisch stammt von einem Flohmarkt. Jennifer will mir ständig neue Möbel kaufen. Und streichen. Oder tapezieren. Dann sage ich ihr, dass ich mich noch nicht entschieden habe, was ich möchte. Wahrscheinlich sollte ich erst mal die ganzen eingestaubten Kartons auspacken.
    Mein Handy wartet auf dem Haufen Schmutzwäsche, genau da, wo es Sonntag Früh gelandet ist, als ich es an die Wand geschmissen habe, weil mich das ewige Geklingel verrückt machte und ich zu müde war, um es auszuschalten.
    … Vor sechs Monaten telefonierte ich das letzte Mal mit ihr , nach meiner zweiten Entlassung aus der Klinik. Ich hatte sie vier- oder fünfmal am Tag angerufen, aber sie ging einfach nicht ran und rief auch nicht zurück – bis endlich dieser Anruf kam. Ich solle zuhören, meinte sie, es werde auch nicht lange dauern.
    Ich sei die Wurzel allen Übels, sagte Cassie, ein schlechter Einfluss, ein giftiger Schatten.
    Während ich eingesperrt war, hatten ihre Eltern sie zu einem Arzt geschleift, der sie einer Gehirnwäsche unterzog und mit Pillen und leeren Worten kleinmachte. Sie müsse nun nach vorn schauen, ihr Leben in die Hand nehmen, ihre Grenzen neu abstecken, erklärte mir Cassie. An mir liege es, dass sie den Unterricht schwänze und in Französisch durchfalle, ich sei der Grund für alles Schlimme und Gefährliche.
    Falsch. Falsch. Falsch.
    An mir lag es, dass sie nicht schon im ersten Schuljahr davongelaufen war. Ich hatte verhindert, dass sie das Röhrchen Schlaftabletten schluckte, nachdem ihr Freund sie betrogen hatte. Ich hatte ihr stundenlang zugehört, als ihre Eltern ihr eine Modelkarriere überstülpen wollten, für die sie nicht gemacht war. Ich konnte verstehen, wenn sie zusammenbrach, jedenfalls meistens. Ich wusste, wie weh es tat, Eltern zu haben, die einen einfach nicht wahrnahmen, nicht einmal, wenn man direkt vor ihnen stand und mit den Füßen aufstampfte.
    Aber Cassie schaffte es nicht, sich all das einzugestehen. Für sie war es leichter, mich ein letztes Mal abzuservieren. Sie machte meinen Sommer zur öden Wüste. Als die Schule wieder anfing, blickte sie in den Korridoren durch mich hindurch, und ihre neuen Freunde hingen ihr am Hals wie Billigschmuck. Sie löschte mich aus ihrem Leben.
    ***
    Aber irgendetwas muss geschehen sein. Mitten in der Nacht von Samstag auf Sonntag hat sie mich angerufen.
    Natürlich ging ich nicht ran. Entweder war sie betrunken oder es war eins von ihren Spielchen. Ich würde nicht noch einmal auf ihre Beteuerungen reinfallen, dass alles wieder gut sei, nur damit sie mir dann wieder die kalte Schulter zeigen und mich aufs Neue zermalmen konnte.
    … ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei n …
    Ich ging nicht ran. Ich habe auch die Mailbox nicht abgehört. Ich war zu wütend, um auch nur einen Blick aufs Telefon zu werfen.
    Sie wartet immer noch auf mich.
    Ich setze mich auf den Berg ungewaschener Klamotten und grabe das Handy hervor. Klappe es auf. Sie hat dreiunddreißig Mal angerufen, der erste Anruf ist von 23:3 0 Uhr Samstagnacht.
    MAILBOX ABHÖREN .
    »Lia? Ich bin’s. Ruf mich an.«
    Cassie.
    Zweite Nachricht: »Wo bist du denn? Ruf mich zurück.« Cassie.
    Die dritte: »Das ist kein Witz, ich muss mit dir reden.«
    Cassie vor zwei Tagen, Samstag.
    »Ruf mich an.«
    »Bitte, bitte ruf an!«
    »Hör zu, es tut mir leid, ich war eine blöde Kuh. Bitte!«
    »Ich weiß genau, dass du die Nachrichten abhörst.«
    »Du kannst später sauer auf mich sein, okay? Ich muss dringend mit dir sprechen.«
    »Du hattest Recht. Es war nicht deine Schuld.«
    »Es gibt sonst keinen, mit dem ich reden kann.«
    »Oh Gott!«
    Zwischen 1:2 0 Uhr und 2:5 5 Uhr hat sie fünfzehn Mal gleich wieder aufgelegt.
    Die nächste Nachricht: »Bitte, Lia, Lia!« Sie lallt.
    »Ich bin so traurig. Ich komm da
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