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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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Regen in meinen Augen, das blaue Wasser unter meiner Haut. Ihren am Kragen festgeklemmten Mikrofonen entgeht kein Laut. Sie wollen mich einfangen, aber sie haben Angst.
    Ich bin ansteckend.
    Ich taumele ins Krankenzimmer und stütze mich an der Wand ab, um in der Senkrechten zu bleiben. Wenn ich renne oder zu tief atme, reißen die billigen Fäden, die mich zusammenhalten, und die klebrige Masse in mir wird auslaufen und sich durch den Betonboden ätzen.
    Der Krankenschwester sträuben sich die Haare, als ich hereinschlüpfe. Sie stellt den Jazz im Radio leiser und mustert mich von oben bis unten, die Hände in die Hüften gestemmt, mit traurigen, freundlichen Augen.
    »Ich dachte, du bleibst heute bestimmt zu Hause«, sagt sie. »Muss doch ein Schock für dich sein. Cassie stand dir sehr nahe, oder?«
    »Mir ist nicht gut«, sage ich. »Kann ich mich einen Moment hinlegen?«
    »Du kennst die Regeln.«
    Sie ist eine listige Hexe in Krankenschwesternmontur.
    »Okay.« Ich nehme auf dem Stuhl neben ihrem Schreibtisch Platz und lasse sie Fieber und Blutdruck messen.
    Sie zieht mir die Manschette über den Armknochen. »Wirst du immer noch regelmäßig gewogen?«
    »Einmal die Woche. Alles bestens. Ich muss nicht auf Ihre Waage.«
    »Du siehst aber nicht bestens aus.« Sie notiert meine Werte. »Wenn du hierbleibst, musst du was zu dir nehmen. Sonst heißt es: ab in den Unterricht.«
    Will ich von innen nach außen sterben oder von außen nach innen?
    Sie öffnet eine Packung Orangensaft, gießt ihn in einen Pappbecher und reicht ihn mir, während sie mir das Thermometer wieder abnimmt. »Das meine ich ernst.«
    Ich nehme den Becher. Meine Kehle will, mein Hirn will, mein Blut will Meine Hand will nicht, mein Mund will nicht.
    Die Krankenschwester will und ich will nicht, dass sie was merkt. Also zwinge ich den Saft in mich hinein.
    Die Tür geht auf, und zwei Typen kommen herein. Der eine blutet aus der Nase, der andere ist vom Anblick des Blutes völlig neben der Spur. Die Krankenschwester lässt den Blutenden Platz nehmen und den Kopf in den Nacken legen. Sein Freund soll sich hinsetzen und den Kopf zwischen den Beinen nach unten hängen lassen, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
    Ich werfe den Pappbecher in den Mülleimer, nehme die Zeitung von ihrem Schreibtisch und verziehe mich auf die Liege am anderen Ende des Zimmers.
    »In einer Viertelstunde trinkst du noch einen«, sagt die Krankenschwester. »Oder du nimmst dir einen Lutscher: Traube oder Limette.«
    »Okay.«
    Ich ziehe den kleinen Sichtschutz vor die Liege, setze mich hin und blättere in der Zeitung. Lokalteil, Seite zwei. Der Artikel ist ziemlich lang und steht neben einer Werbung für Pelzmäntel mit 30% Preisnachlass.
    Die Polizei ermittelt im Fall der verstorbenen neunzehnjährigen Cassandra Parrish aus Amoskeag, New Hampshire. Die Leiche des Mädchens wurde am frühen Sonntagmorgen in einem Zimmer des Gateway Motels in der River Road in Centerville aufgefunden. Ein Mitarbeiter des Motels hatte die Tote entdeckt und die Polizei verständigt, die um 4:4 3 Uhr am Ort des Geschehens eintraf. Erste Hinweise lassen vermuten, dass Miss Parrish eines natürlichen Todes starb, die Polizei will jedoch bislang Fremdeinwirkung oder Drogenmissbrauch nicht ausschließen.
»Wir sammeln nach wie vor Indizien«, sagte Polizeisprecherin Sergeant Anna Warren. »Über Zeitpunkt und Todesursache werden wir Angaben machen, sobald das Ergebnis der Autopsie vorliegt.«
Miss Parrish, von ihren Freunden »Cassie« genannt, war eine beliebte Sportlerin und Mitglied der Theatergruppe der Highschool von Amoskeag. Ihr Vater, Jerry Parrish, ist Leiter der Park Street Grundschule. Ihre Mutter Cindy engagiert sich für schulische Aktivitäten und Gemeindeanliegen. Der Oberschulrat von Amoskeag, Nelson Bushnell, spricht von einem »unendlich traurigen Schicksalsschlag« für die Familie Parrish.
»Cassie war so, wie wir uns alle unsere Kinder wünschen: klug, fleißig und liebenswürdig«, äußerte sich Bushnell.
Die Gerüchte, dass Miss Parrish persönliche Probleme gehabt haben soll, kommentierte er mit den Worten: »Heutzutage haben doch die meisten Jugendlichen irgendwelche Probleme. Cassie hatte große Fortschritte darin gemacht, ein gesundes Leben zu führen. Ihr Vater erzählte mir bei unserem letzten Gespräch, dass sie gerade dabei war, ihr College-Hauptfach zu wählen; sie schwankte zwischen Psychologie und französischer Literatur. Ihr Tod ist gleichermaßen tragisch und
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