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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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nicht raus.«
    »Ruf an. Was für ein Albtraum.«
    Noch zwei Anrufe ohne Nachricht.
    3:2 0 Uhr, sehr vernuschelt: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
    3:2 7 Uhr: »Ich vermiss dich. Vermiss dich.«
    Ich vergrabe das Handy ganz tief unten im Wäscheberg und ziehe mir noch einen dicken Kapuzenpulli über, ehe ich zum Auto gehe. In New Hampshire kommt der Winter früh.
    005.00
    Mein Timing ist mal wieder spitze und ich lande mitten in einem Stau. In den anderen Autos sitzen fette Kühe und brüllende Stiere. Wir schleichen mit zehn Stundenkilometern dahin. Da bin ich schneller, wenn ich renne. Bremsen. Sie sind am Wiederkäuen und muhen in ihre Handys, bis die Herde Gang wechselt und weiterrollt.
    Vierundzwanzig Stundenkilometer. So schnell kann ich nicht rennen.
    Irgendwo zwischen Martins Corner und der Rout e 28 fange ich an zu heulen. Ich schalte das Radio an, singe aus voller Kehle mit, schalte es wieder aus. Ich schlage mit den Fäusten aufs Lenkrad ein, bis blaue Flecken zu sehen sind, und mit jedem Kilometer wird das Weinen schlimmer. Wie Regen, der mir das Gesicht hinunterläuft.
    … ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei n …
    Was hat sie dort gemacht? Was hat sie gedacht?
    Hat es wehgetan?
    Zwecklos, nach dem »Warum« zu fragen, obwohl jeder es tun wird. Ich weiß, warum. Die schwierigere Frage lautet: Warum nicht? Kaum zu glauben, dass ihr tatsächlich vor mir die Antworten ausgegangen sind.
    Ich müsste jetzt laufen, fliegen, so heftig mit den Flügeln schlagen, dass ich nichts höre außer meinem pochenden Herzschlag. Regen, Regen, Regen, in dem ich ertrinke.
    Ob es wohl leicht war?
    Ich nehme keine Abkürzung und vergesse auch nicht, am Feinkostladen abzubiegen. Ich verfahre mich nicht, auch nicht absichtlich. Ich fahre wie ein Roboter zur Schule, komme für ihre Begriffe spät an, für meine früh. Die letzten Busse sind eben erst vorgefahren.
    Ich steige aus und schließe den Wagen ab.
    Der unerbittliche Novemberwind bläst mich zum Haupteingang. Von den Zuckergusswolken über mir trudeln spitze Schneeflocken herab.
    Der erste Schnee. Zauberei. Alle bleiben stehen und schauen hoch. Die Busabgase gefrieren, hüllen sämtliche Geräusche in eine grobkörnige Wolke. Selbst die Eingangstüren zur Schule sind eingefroren.
    Wir legen die Köpfe in den Nacken und reißen die Münder auf.
    Der Schnee weht in unsere Zombiemäuler, in denen es wimmelt von Fett und Flüchen und Tabakkrümeln und Karies und den Körperflüssigkeiten von Freund oder Freundin, den Flecken der Lüge. Einen kurzen Moment lang sind wir nicht nur verhauene Tests und geplatzte Kondome und bescheißen beim Aufsatz; wir sind Buntstifte und Butterbrotdosen und schaukeln so hoch in den Himmel hinauf, dass unsere Turnschuhe Löcher in die Wolken treten. Einen Atemzug lang fühlt sich alles besser an.
    Dann schmilzt er weg.
    Die Busfahrer lassen ihre Motoren aufheulen und die Eiswolke bricht auseinander. Alle schlendern weiter. Sie wissen nicht, was gerade passiert ist. Sie erinnern sich nicht.
    Sie hat mich angerufen.
    Ich gehe zurück zu meinem Auto, steige ein, drehe die Heizung auf und wische mir das Gesicht an meinem Pullover ab. 7:3 0 Uhr. Emma hat gerade die Französischstunde hinter sich und packt ihre Geige aus. Sie wird sich zu viel Zeit nehmen, um ihren Bogen zu harzen, und zu wenig für das Stimmen der Saiten. In ein paar Wochen steht das Winterkonzert an, und sie kann ihre Stücke immer noch nicht. Eigentlich sollte ich ihr dabei helfen.
    Cassie liegt wohl im Leichenschauhaus. Die letzte Nacht hat sie dort in einer silbernen Schublade geschlafen, und ihre Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt.
    Jennifer sagt, dass eine Autopsie gemacht wird. Wer wird ihr die Kleider herunterschneiden? Wird man sie baden, werden Fremde ihre Haut berühren? Kann sie ihnen zuschauen? Wird sie weinen?
    Es läutet zum letzten Mal, und die Nachzügler auf dem Parkplatz hasten Richtung Tür. Nur noch ein paar Minuten. Ich kann nicht reingehen, ehe die Flure leer sind und die Lehrer jeden mit ihrer Langeweile betäubt haben; niemand soll mich sehen, wenn ich die Gänge entlangschleiche.
    Ich drehe mich um und mache auf dem Rücksitz Platz, schiebe die ganzen Prüfungsbogen, Klamotten und überfälligen Büchereibücher zur Seite, damit Emma irgendwo sitzen kann, wenn ich sie nachher abhole. Jennifer besteht darauf, dass Emma hinten sitzt. Das sei sicherer.
    Es gibt kein Sicherer. Nicht mal ein Sicher. Hat es
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