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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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nachzudenken.«
    »Gut.«
    »Verabschiede dich von deiner Schwester«, fordert sie Emma auf.
    »Wiedersehen, Lia.« Emma winkt und schenkt mir ein kleines Blaubeerlächeln. »Sind echt lecker, die Pops. Du kannst die Schachtel leer machen, wenn du willst.«
    003.00
    Ich schütte zu viele Blaubeerpops (150) in die Schale, gieße zweiprozentige Milch (125) drüber.
    Das Frühstück ist ja Diewichtigstemahlzeitdestages. Das Frühstück macht mich sta-aaaaaaaa-rk.
    … Als ich noch ein richtiges Mädchen war, mit Vater und Mutter und einem Haus und ohne blitzende Klingen, gab es zum Frühstück Müsli mit frischen Erdbeeren obendrauf, und beim Essen las ich ein Buch, mit der Obstschale als Buchstütze. Bei Cassie zu Hause aßen wir immer Waffeln mit echtem Ahornsirup, nicht mit diesem künstlichen Ersatzmist aus Mais, und wir lasen die Witzseit e …
    Nein, das tu ich mir jetzt nicht an. Ich will nicht denken. Ich will nicht hinsehen.
    Und ich will meine Eingeweide auch nicht mit Blaubeerpops oder Muffins oder kratzraspeligen Toaststücken verschmutzen. Der Dreck und die Fehler von gestern sind durch mich hindurch. Nun bin ich innen blitzblank und rosig. Ein gutes Gefühl, leer zu sein. Ein Gefühl von Stärke.
    Aber ich muss noch fahren.
    … Letztes Jahr bin ich auch gefahren, mit offenen Fenstern, lauter Musik, am ersten Samstag im Oktober, so raste ich zur Aufnahmeprüfung fürs Studium. Ich saß hinterm Steuer, damit Cassie ihren Nagellack auftragen konnte. Wir waren heimlich verbündete Schwestern mit dem Plan zur Weltherrschaft, die Möglichkeiten umsprudelten uns wie Champagner. Cassie lachte. Ich lachte. Wir waren vollkommen.
    Ob ich gefrühstückt hatte? Natürlich nicht. Hatte ich am Abend zuvor was gegessen oder mittags oder überhaupt?
    Der Wagen vor uns bremste ab, als die Ampel erst auf Gelb und dann auf Rot sprang. Mein Flipflop schwebte über dem Pedal. Vor meinen Augen verschwamm alles. Schnörkelige schwarze Schauer wanden sich meine Wirbelsäule hinauf und legten sich um meine Augen wie ein Seidenschal. Das Auto vor uns verschwand. Lenkrad und Armaturenbrett verschwanden. Es gab keine Cassie, keine Ampel. Wie sollte ich dieses Ding anhalten?
    Cassie schrie in Zeitlupe.
    ::Explosion/Marshmallow/Airbag::
    Als ich aufwachte, blickte ich in die besorgten Gesichter eines Sanitäters und eines Polizisten. Der Fahrer des Wagens, in den ich reingefahren war, brüllte in sein Handy.
    Mein Blutdruck glich dem einer kalten Schlange. Mein Herz war müde. Meine Lunge wollte eine kleine Pause. Man steckte eine Nadel in mich hinein, blies mich auf wie einen Heißluftballon und verfrachtete mich in ein Krankenhaus, wo Krankenschwestern mit stahlhartem Blick jeden schlechten Wert notierten. Erwischt.
    Mom und Dad stürmten herein, ausnahmsweise einmal Seite an Seite, froh, dass ich nicht tot war. Eine Krankenschwester gab meiner Mutter meine Krankenakte. Sie las sich alles durch und erklärte die Katastrophe meinem Vater, worauf zwischen ihnen Streit ausbrach, eine wahre Schlammschlacht, die über die antiseptischen Betttücher und sogar bis in den Korridor hinausspritzte. Ich war gestresst/überfordert/verrückt/nein, deprimiert/nein, ich brauchte Aufmerksamkeit/nein, brauchte Disziplin/brauchte Ruhe/brauchte/deine Schuld/deine Schuld/Schuld/Schuld. Sie trugen ihren Streit auf dem Rücken des klapperdürren Mädchens aus.
    Es wurde telefoniert. Meine Eltern eskortierten mich in die Berghölle in die Klinik New Season s …
    Cassie kam davon, wie immer. Ohne jeden Kratzer. Die Versicherung übernahm mehr als nur den Schaden, sodass am Ende ein reparierter Wagen und neue Lautsprecher für sie heraussprangen. Unsere Mütter trafen sich zu einem Gespräch, aber jedes Mädchen macht doch mal so eine Phase durch, was soll man da schon groß tun? Cassie meldete sich für die Nachprüfung an und ließ sich die Nägel im Nagelstudio machten, Delfinblau, während man mich einsperrte und Zuckerlösung in meine leeren Venen tropft e …
    Lektion gelernt. Zum Autofahren braucht man Benzin.
    Nicht Emmas Blaubeerpops. Zittrig schütte ich den größten Teil der ekligen Pampe in den Müllhäcksler und stelle den Rest auf den Boden. Emmas Katzen, Kora und Pluto, kommen durch die Küche getappt und stecken ihre Köpfe in die Schale. Ich zeichne ein Comicgesicht mit einer großen Zunge auf einen Klebezettel, schreibe LECKER , EMMA ! DANKE ! drauf und klatsche ihn auf die Blaubeerpopsschachtel.
    Ich esse zehn Rosinen (16), fünf Mandeln
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