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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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mästeten mich wie ein kleines rosa Schweinchen vor dem Markttag. Sie quälten mich mit matschigen Äpfeln und Nudelwürmern und kleinen Kuchen, die aus dem Ofen marschierten und sich hinlegten und auf ihren Zuckerguss warteten. Ich biss ab, kaute und schluckte Tag für Tag, und ich log und log und log. (»Wieder so werden wie früher«? Wieso? Ich hatte Jahre gebraucht, um so abzunehmen. Ich war doch nicht krank – ich war stark.) Aber stark zu bleiben hätte bedeutet, dass man mich weiter einsperrte. Der einzige Weg, der nach draußen führte, war, Essen in mich reinzustopfen, bis ich kaum noch laufen konnte.
    Ich würgte irgendeinen Schwachsinn hervor, über Gefühle und Probleme und meine Schenkel. Die Ärzte nickten und belohnten mich mit Aufklebern für meine Ehrlichkeit. Vier Wochen später öffneten sich die Tore. Mom Dr . Marrigan fuhr mich heim zu sich nach Hause und wir taten so, als wäre nichts von alldem jemals geschehen – abgesehen von den Ernährungsplänen und den Regeln und den Terminen und der Waage und dem Wirbelsturm mütterlicher Enttäuschung.
    Cassie verstand mich. Sie hörte sich all meine Erlebnisse an und lobte mich für meine Tapferkei t …
    Ich fahre in die Garage, der Kopf schwirrt mir vom Benzingeruch. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Eines Tages werde ich nach Hause kommen und der Nachrichtensprecher im Fernsehen wird gerade verkünden, dass sich in der Innenstadt soeben ein Unfall mit Fahrerflucht ereignet habe. Die Kamera wird Blutspuren und Glasscherben auf dem Bürgersteig zeigen. Ein Reporter interviewt eine schluchzende Frau, die den Unfall vor dem Kaufhaus in der Bartlett Street beobachtet hat. Und plötzlich werde ich einen seltsamen Geschmack im Mund haben, weil ich eine Tüte aus diesem Kaufhaus in der Hand halte. Und wenn ich in die Garage zurückrenne, finde ich dort die Leiche einer Frau, die in meiner Windschutzscheibe steckt, und überall ist Blut.
    So etwas kann passieren.
    Ich steige aus und kontrolliere das ganze Auto – Türen, Motorhaube, Stoßstangen, Scheinwerfer, Kühlergrill und Kofferrau m –, um sicherzugehen, dass ich keinen Unfall hatte, ohne es zu merken. Keine kaputten Scheinwerfer oder verbeulten Türen. Keine toten Frauen in der Windschutzscheibe. Nicht heute.
    009.00
    Ich gehe direkt zum Kühlschrank und krame die Reste der Thanksgiving-Truthahnfüllung hervor.
    … Als ich noch ein richtiges Mädchen war, feierten wir Thanksgiving bei Oma Marrigan in Maine oder bei Großmutter Overbrook in Boston. Bei Oma hatte der Truthahn immer eine Austernfüllung. Bei Großmutter waren es Kastanien und Wurstbrät.
    Oma liebte Kürbiskuchen über alles, mit einer Kruste aus Zimt und Pecannüssen. Großmutter dagegen machte immer Pasteten mit Hackfleischfüllung, weil das schon ihre eigene Großmutter immer gemacht hatte. An den Tischen drängten sich die Erwachsenen, die nach den vollen Schüsseln griffen und viel zu laut redeten. Cousins und Großonkel und Freunde, die weit, weit weg wohnten. Der Geruch von Bratensaft und Zwiebeln sorgte dafür, dass meine Eltern zu streiten vergaßen, der Geschmack von Preiselbeeren erinnerte sie daran, wie man lacht. Ich dachte, meine Großmütter würden ewig leben, und an Thanksgiving gäbe es für immer und ewig Tischdecken aus Spitze, feinstes Porzellan und schweres Silberbesteck, das ich, auf einem Hocker stehend, polierte.
    Doch sie starben.
    Thanksgiving letzte Woche schmeckte nach Süßstoff, angereichert mit Konservierungsstoffen und Anspannung, eingewickelt in Frischhaltefolie. Dads Schwestern kommen nicht mehr, weil ihnen die Fahrt zu weit ist. Jennifers Familie feiert bei ihrem Bruder, weil er mehr Schlafgelegenheiten hat. ( Mom Dr . Marrigan hat wahrscheinlich an ihrem Schreibtisch gegessen oder hat pro forma eine Portion Kartoffelpüree mit Bratensoße in der Krankenhauscafeteria zu sich genommen.)
    Wir waren nur wir vier und zwei von Dads College-Absolventen. Die eine war Veganerin und aß drei Portionen Süßkartoffeln und fast das ganze Kürbisbrot, das sie mitgebracht hatte. Der andere war aus Los Angeles und meinte, er würde fasten, weil man an Thanksgiving dem Völkermord der Ureinwohner Amerikas gedenkt. Nachdem sie gegangen waren, erkundigte sich Emma bei Dad, warum der Fastentyp denn überhaupt gekommen sei. Um sich einzuschleimen, weil er ein Empfehlungsschreiben haben wollte, erklärte Dad. Und Jennifer meinte, der Typ würde hoffentlich daran ersticken.
    Ich lade mir ein
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