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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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sehnt.«
    Cassie war gerade dabei, einen Karton mit Taschenbüchern auszupacken. Als sie aufstand, sah ich, dass sie mich um einen ganzen Kopf überragte und lange blonde Locken hatte, die sich ihren Rücken hinunterschnörkelten. Zuerst wollte sie nichts sagen, schaute mir nicht einmal in die Augen, aber immerhin durfte ich Pinky, ihre Maus, in die Hand nehmen. Das pochende Mäuseherz pulsierte gegen meine Fingerspitzen.
    Cassies Zimmer hatte dieselbe Größe wie meins und war genauso geschnitten. Aber es standen ganz andere Sachen drin: ein Himmelbett, eingerahmt von Vorhängen aus Spitze, das Puppenhaus mit schwarzen Buntstiftkrickelspuren, ein hoher, schmaler Spiegel, der allein in der Ecke stand, und ein Bücherschrank, der zu klein wirkte, um all die Bücher aus den Kartons darin unterzubringen. Cassie zeigte mir ihre wertvollen alten Puppen, die Plastikpferdesammlung und – das war das Beste – eine echte Schatztruhe voller Rubine und Gold und einem grünen Stück Meerglas, das, wie sie sagte, aus dem Herzen eines Vulkans stammte.
    Ich erklärte ihr, dass Meerglas aus dem Meer kommt.
    »Das hier nicht«, erwiderte sie. »Es ist Mehrglas mit ›h‹, so wie ›mehr wissen‹. Wenn die Sterne richtig stehen und man da durchguckt, weiß man mehr über seine Zukunft.«
    »Oh«, sagte ich und streckte meine Hand danach aus.
    »Aber heute nicht.« Sie legte das Mehrglas wieder weg und schloss die Schatztruhe. Ich sah, wo sie den Schlüssel versteckte.
    Wir setzten uns einander gegenüber und begannen, den Karton auszupacken, der zwischen uns stand. Während ich ihr Buch für Buch reichte, verglichen wir unsere Lieblingsserien und Lieblingsschriftsteller und dann Filme und Fernsehshows und Musik, die wir angeblich hörten, obwohl wir noch viel zu jung dafür waren. Als Mr s Parrish und meine Babysitterin hereinkamen, legte Cassie mir den Arm um die Schultern.
    »Das ist Schicksal«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Wir sind dazu bestimmt, Freundinnen zu sein.«
    Mr s Parrish lächelte. »Ich hab dir doch gesagt, dass hier alles gut wird.«
    Cassies Vater war der neue Schuldirektor, der von einer Schule im Norden angeheuert worden war, nachdem unser alter Direktor einen Schlaganfall erlitten hatte. Cassies Mutter wurde Gruppenleiterin bei unseren Pfadfinderinnen, stellte sich als freiwillige Begleitperson bei Exkursionen zur Verfügung und nähte Kostüme für Theateraufführungen in der Schule. Sie lud meine Mutter zum Kartenspielen, zu Bastelabenden und Literaturzirkeln ein, aber Mom war zu sehr mit ihren Herztransplantationen beschäftigt. M r Parrish spielte kein Squash und mein Vater spielte kein Golf, und damit war auch diese Sache erledigt.
    Cassie war ein wenig launisch, aber daran gewöhnte ich mich. Ich übernachtete fast jedes Wochenende bei ihr, sie jedoch nie bei mir. Dass sie schlafwandelte, war ein Tabuthema, genau wie ihre Wutausbrüche, wenn ihre Mutter an ihr herumnörgelte oder wenn ihr Vater sie anhielt, irgendwelche Hausarbeiten noch ein zweites Mal, aber diesmal gründlicher, zu erledigen.
    Einmal hörte ich, wie ihre Mutter sich mit meiner Babysitterin über etwas Schlimmes unterhielt, was in ihrer alten Wohngegend passiert war, etwas mit einem Jungen. Ich fragte Cassie danach, und sie sagte, ich würde sie fertigmachen wollen und dass sie mich hasste und wir keine Freundinnen mehr wären. Ich setzte mich auf die kleine Treppe vor unserem Haus, las Die Zeitfalte und knabberte an den Spitzen meiner Ponyfransen, bis sie eine Stunde später wieder zu mir kam und fragte, ob wir Fahrrad fahren sollten – so als wäre nichts geschehen.
    Im Sommer kletterten wir nachmittags immer in mein Baumhaus und verschlangen Bücher über gefährliche Schatzsuchen und atemberaubende Abenteuer. Ich bastelte uns Schwerter aus Ästen und schärfte die Spitzen mit einem Steakmesser, das ich aus der Küche geklaut hatte. Cassie pflückte giftige Beeren und schnitt im Garten ihrer Mutter eine Rose ab. Wir schmierten uns die Beeren ins Gesicht und stachen uns mit einem Rosendorn in den Finger. Dann schworen wir heilige Eide, stark zu sein, die Welt zu retten und für immer und ewig Freundinnen zu bleiben.
    Sie zeigte mir, wie man Solitaire spielt, und ich brachte ihr Hearts bei.
    Im Frühjahr der fünften Klasse erschien die Busenfee mit ihrem Zauberstab und zog Cassie damit so heftig eins über, dass sie die Erste in unserer Klasse war, die einen richtigen BH brauchte. Die Jungen glotzten und kicherten. Die
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