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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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du wach?«
    Mit ihrer nörgeligen Mamastimme fordert Jennifer von Emma: »Zum letzten Mal, geh nach oben!« Emmas Antwort ist zu leise, um sie zu verstehen.
    Dad setzt sich auf meine Bettkante, streicht mir das Haar aus dem Gesicht, beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. Er riecht nach aufgewärmtem Essen und Wein.
    »Lia?«
    Hau ab. Lia will hundert Jahre lang in einem verschlossenen Glassarg schlafen. Alle Leute, die das Versteck des Schlüssels kennen, werden sterben, dann hat sie endlich mal ein bisschen Ruhe.
    Er hebt meinen Kopf an und zieht das Buch darunter hervor. Ich öffne ein Auge einen Spaltbreit, linse durch die stacheligen Wimpern. Dad markiert die Stelle, wo das Buch aufgeschlagen war, indem er ein Eselsohr in die Seite macht, dann liest er den Text, der hinten auf dem Umschlag steht. Oberhalb seines Kragens pulsiert die Haut, der Blutstrom, der sein riesiges Gehirn versorgt.
    Mein Vater ist Geschichtsprofessor, groß und mächtig, der Experte zum Thema Unabhängigkeitskrieg. Er hat den Pulitzerpreis und den National Book Award gewonnen und ist Berater bei einer Nachrichtensendung. Das Weiße Haus lädt ihn so oft zum Abendessen ein, dass er einen Smoking besitzt. Er hat mit zwei Vizepräsidenten und einem Verteidigungsminister Squash gespielt. Er weiß, wie wir wurden, was wir heute sind, und wie es nun weitergehen sollte. Meine Lehrer sagen, ich könnte froh sein, so einen Vater zu haben. Vielleicht wäre ich es, wenn ich Geschichte nicht so hassen würde.
    »Lia? Ich weiß, dass du wach bist. Wir müssen miteinander reden.«
    Ich halte die Luft an.
    »Schatz, das mit Cassie tut mir leid.«
    Um mich herum knackt das Glas. Cassie hat mich angerufen, ehe sie starb. Wieder und wieder hat sie angerufen und darauf gewartet, dass ich rangehe.
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    Mein Vater streicht mir noch einmal über das Haar. »Gott sei Dank lebst du.«
    Feine Risse fressen sich über die Oberfläche des Glaskastens, als wäre plötzlich ein Körper vom Himmel gefallen und dort gelandet. Dad hört weder den Aufprall noch riecht er das Blut.
    Er atmet tief durch und klopft mir sanft auf die Schulter, die sich unter der Steppdecke verbirgt. »Wir reden später«, lügt er.
    Wir reden nie. Wir tun bloß so, als würden wir es in Erwägung ziehen, und sagen ab und an, dass wir uns demnächst wirklich mal hinsetzen und reden sollten. Es wird nie dazu kommen.
    Das Bett knarrt, als er aufsteht. Er knipst die Nachttischlampe aus und durchquert im schwachen Schein der an der Decke klebenden Plastikgalaxie das Zimmer. Als der Schnapper mit einem Klicken im Türrahmen einrastet, bin ich erlöst.
    Ich rolle mich mit dem Gesicht zur Wand. Glasscherben rasen auf mein Herz zu, weil Cassie tot wie Stein ist. Sie starb im Gateway Motel, und ich bin schuld. Nicht die Modezeitschriften oder das Internet oder die fiesen Lästermädchen im Umkleideraum oder die hormongeschädigten Jungs auf dem Pausenhof. Nicht die Trainer oder Studienberater oder Lehrer oder die Erfinder von Kleidergröß e 0 und 00. Nicht mal ihre Eltern.
    Ich bin nicht rangegangen.
    010.00
    … Als ich noch ein richtiges Mädchen war, hieß meine beste Freundin Cassandra Jane Parrish. Sie zog im Winter her, als ich in die dritte Klasse ging. Ich saß da, das Kinn aufs Fensterbrett gestützt, und starrte hinüber, als sie den Umzugswagen ausluden. Ein Kerl trug ein Kinderfahrrad und ein rosafarbenes Plastikpuppenhaus heraus. Ich schöpfte Hoffnung. Das Neubaugebiet wurde gerade erst erschlossen, es gab fast nur Rohbauten und zugefrorene Matschgruben. Ich sehnte mich nach anderen Kindern in meinem Alter, mit denen ich spielen konnte.
    Meine Babysitterin ging mit mir und einer Kanne Kaffee hinüber, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Ihr Haus war genau wie unseres, nur andersherum gebaut, und es roch genauso nach frischer Farbe und sauberen Teppichen. Die Mutter, Mr s Parrish, wirkte so alt wie eine Großmutter. Ihre blauen Augen waren ständig weit aufgerissen, als würde sie alles, was sie sah, in Erstaunen versetzen. Die Babysitterin stellte mich vor und erklärte die Sache mit meinen Eltern und ihren Millionen-Stunden-pro-Woche-Jobs. Mr s Parrish rief die Treppe hinauf nach ihrer Tochter. Und Cassandra brüllte zurück, dass sie nie wieder aus ihrem Zimmer kommen werde.
    »Geh ruhig rauf, Liebes«, sagte Mr s Parrish zu mir. »Ich weiß, dass sie sich nach einer Freundin
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