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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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bisschen von Jennifers Truthahnfüllung auf einen Teller (und lasse ein paar Löffel für die Katzen auf den Boden fallen), klatsche Ketchup drauf und erhitze das Ganze lang genug in der Mikrowelle, dass es überallhin spritzt. Danach lasse ich die Mikrowellentür sperrangelweit offen stehen, damit der Gestank die ganze Küche verpestet.
    Kontrollblick auf die Uhr. Zehn Minuten.
    Ich tupfe mir ein bisschen Ketchup in die Mundwinkel, kratze den ganzen Mist ins Spülbecken, lasse heißes Wasser laufen und betätige den Schalter vom Müllhäcksler, der im Abfluss eingebaut ist. Während der Häcksler läuft, versuche ich mich abzulenken – die Verfassung auswendig aufsagen, die Reihenfolge der amerikanischen Präsidenten, wie heißen Schneewittchens sieben Zwerg e – , aber ich kann nicht aufhören, daran zu denken:
    Sie hat mich angerufen.
    Ich schließe die Mikrowelle. Trage den schmutzigen Teller mit der Gabel ins Wohnzimmer und stelle ihn auf einem Beistelltisch ab.
    Sieben Minuten.
    Ich muss wirklich etwas essen.
    Sie hat mich dreiunddreißig Mal angerufen.
    Eine große Reiswaffel = 35. Mit einem Teelöffel scharfem Senf obendrauf: plus 5. Zwei Teelöffel = 10. Reiswaffeln mit scharfer Soße sind besser. Man isst und wird gleichzeitig mit jedem Bissen bestraft. Jennifer kauft keine scharfe Soße mehr. Zwei Reiskekse, vier Teelöffel Senf = 90.
    Am liebsten würde ich kotzen können. Ich versuche es immer und immer wieder, aber ich schaffe es einfach nicht. Der Geruch macht mich wahnsinnig, mein Hals macht dicht, und ich kann einfach nicht.
    1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.
20.21.22.23.24.25.26.27.28.29.30.31.32.33.
    Jennifer kommt nach Hause und sagt, ich soll meinen Teller in die Spülmaschine stellen und die Sauerei wegmachen, die ich in der Mikrowelle veranstaltet habe. Ich entschuldige mich und tue, was sie verlangt, während sie umständlich versucht, eine glitschige Flasche kalten Chardonnay zu öffnen. Als ich schon auf der Treppe bin, platzt Emma zur Haustür herein, mit dreckigem Fußballtrikot und glühend roten Wangen.
    »Ich hab fast ein Tor geschossen!«, brüllt sie.
    »Super!«, sage ich.
    »Willst du jetzt mit mir kicken?«
    Zu viele Seile ziehen mich hinab in den Boden. »Ich kann nicht, Emmaschatz. Ich bin fix und fertig. Außerdem ist es schon dunkel. Morgen, okay?«
    Ihr Lächeln bröckelt. Ich schleppe mich die restlichen Stufen hinauf.
    Mach die Tür zu. Mach die Tür zu.
    Mein Strickzeug ist eines der wenigen Dinge, die ich ausgepackt habe, seit ich hier eingezogen bin. Ich sitze auf meiner Bettkante und wühle in dem Korb herum, taste mich an dem nie endenden Projekt Schal/Decke vorbei, an einsamen Stricknadeln ohne Partner und an orangefarbenen, braunen und roten Wollknäueln bis zur magischen Flasche mit den zartroten Notfallpillen. Cassie hat sie mir besorgt, aber sie wollte nicht verraten, woher sie sie hat. Ich nehme eine, nur eine.
    An der kalten Decke hängen erwartungsvolle Plastiksterne, die den Lichtschalter beobachten, aufgeregt, weil es bald dunkel wird und sie dann dran sind mit Leuchten. Dieses Mädchen hat Physikhausaufgaben. Dieses Mädchen muss einen Aufsatz über Völkermord schreiben und die Trigonometrieaufgaben von letzter Woche lösen und ein Quiz über literarische Stilmittel in irgend so einer bescheuerten Geschichte.
    Dieses Mädchen zittert, kriecht angezogen unter die Bettdecke und versinkt in einem überfälligen Büchereibuch, einem Märchen, in dem Ratten und wilde Verwünschungen vorkommen. Die Sätze bilden einen Schutzwall um sie, eine Times-New-Roman-10-Punkt-Schriftmauer, die die gefährlichen Stimmen in ihrem Kopf fernhält.
    Als Dad nach Hause kommt, wird sein Abendessen in der Mikrowelle aufgewärmt. Wieder wird Wein eingeschenkt. Jennifer erklärt Emma, dass sie längst im Bett sein sollte. Ich blättere eine stille Seite nach der anderen um, aber inzwischen sehe ich keine Buchstaben und verstehe keine Wörter mehr.
    Seine Schritte auf der Treppe.
    Ich lege mein Gesicht auf das Buch, mittendrauf, mein Haar breitet sich über den Seiten aus wie wiegende Algen im Erzählstrom der Geschichte, der mich hinabzieht in den Schlaf. Die eine Hand lasse ich locker über die Bettkante hängen.
    Nein, lieber nicht. Ich ziehe sie wieder ein.
    Seine Schritte im Flur. Die Tür öffnet sich.
    »Lia?«
    Lia ist gerade nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.
    Sie hat mich dreiunddreißig Mal angerufen.
    ***
    »Lia? Bist
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