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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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schlechter Zeichentrickfilm. Auf dem Tisch steht eine flache Schale mit angebissenen Ingwerkeksen, daneben eine Flasche Wodka. In der Mikrowelle knattert Popcorn.
    Sie zieht mich neben sich. »Okay, hör zu. Die nächsten paar Minuten werden total beschissen. Da kommt man nicht drum rum, tut mir leid. Ich würde es dir gern irgendwie erleichtern, wenn ich könnte.«
    »Wovon redest du?«
    Sie kichert. »Jetzt hör auf rumzublödeln. Das hier ist ein ernster Moment. Du überschreitest die Grenze.«
    »Ich muss meine Eltern anrufen.«
    »Kannst du nicht.«
    »Wieso? Was ist hier los?«
    Sie klopft mir mit steinernen Fingern auf die Schulter. »Lia-Schatz? Du stirbst. Dir ist irgendwie schwindelig, oder? Fühlst du dich nicht total komisch? Dein Herz bleibt jeden Moment stehen.«
    Ich schiebe ihre Hand weg. »Ich will deine Spielchen nicht.«
    »Du hast keine Wahl. Es ist dein Schicksal. Es wird Zeit.« Wieder streckt sie ihre Hand nach mir aus. Dünne Nebelbänder fließen aus ihren Fingern und wickeln sich um meine Arme. »Ganz ruhig. So weh tut es nun auch wieder nicht.«
    »Ich will nach Hause.«
    »Schau nach links und rechts, ehe du rübergehst.«
    »Ich muss Emma das Stricken beibringen. Ich hab’s ihr versprochen.«
    »Die besorgen ihr eine DVD .«
    »Aber ich will nicht.«
    Sie spricht langsam. »Vor ein paar Stunden haben deine Nieren versagt. Hungern und Dehydrierung und völlige Erschöpfung und obendrauf noch eine Fast-Überdosis? Nicht übel, Lia. Deine Lunge füllt sich mit Wasser. Es dauert nur noch ein paar Minuten. Entspann dich.«
    Sie beugt sich vor und atmet einen Kranz aus Nebelschwaden aus, die mich einhüllen wie Feuerqualm. Mein Herz flattert kurz. Ich versuche zu atmen, aber meine Lunge dehnt sich nicht.
    Einen Augenblick lang, einen Glassarg-Moment, möchte ich aufgeben. Erfrieren. Verbluten. Die Kapitulation wäre so einfach. Danach könnte ich für immer schlafen.
    Wieder zuckt mein dummes Herz im Morast, unwillig, jetzt schon seinen Winterschlaf anzutreten. Noch einmal, dann ein dritter Schlag, diesmal schneller. Er entfacht eine Art Feuer in meinem Blut.
    Ich wedele mit den Armen, um die Nebelwand zu durchbrechen. »Mach den Mund auf!«
    »Hä?«
    »Wenn ich sterbe, musst du nett zu mir sein. Komm schon, Cassie, tu mir den Gefallen.«
    Sie zuckt mit den Schultern, seufzt und öffnet den Mund. Auf ihrer Zunge liegt die kleine grüne Scheibe, das Meerglas, das aus einem Vulkan stammt und zusammen mit ihr in die Erde hinuntergelassen wurde. Blitzschnell schnappe ich es mir.
    »Nein!«, kreischt sie.
    Ich versuche aufzustehen, aber meine Beine gehorchen nicht.
    »Das ist meins!« Sie schlägt mir auf den Arm.
    Das Stück Glas fliegt durch die Luft und fällt auf den Teppich. Wir wälzen uns übereinander, Körper und Schatten, Knochen und Schimmer. Sie kommt dichter heran als ich, aber sie sieht es nicht. Ich greife unter den Beistelltisch und tue so, als läge es dort. Sie packt mich von hinten an der Jacke und zerrt mich zur Seite.
    »Ha!«, murmelt sie und tastet unter dem Tisch.
    Meine Fingerspitzen kriechen über den Teppich, bis sie das Glas zu fassen kriegen. Cassies Kopf steckt zur Hälfte unter dem Tisch. Ich halte die Scheibe an mein Auge.
    Sie ist dreckig.
    Ich lecke sie ab, ein grüner Lutscher, der auf meiner Zunge zischt. Das Geräusch lässt Cassie erstarren. Sie dreht sich um, als ich das Glas wieder in die Höhe halte und durch das lindgrüne Kristall aus dem Fenster blicke, auf die Sternenreihe über uns.
    Ihr Schrei ist wie in weißen Samt gehüllt, elegant und gedämpft.
    Das Licht vor meinen Augen blitzt mit hundert Zukunftschancen für mich auf. Ärztin. Kapitänin eines Schiffes. Försterin. Bibliothekarin. Geliebt von jenem Mann, jener Frau, jenen Kindern oder jenen Leuten, die für mich gestimmt haben oder die mich auf Leinwand malen. Dichterin. Akrobatin. Ingenieurin. Freundin. Beschützerin. Wütender Wirbelsturm. Eine Million Zukunftschancen – nicht alle schön, nicht alle lang, doch alle gehören sie mir.
    »Du hast gelogen«, sage ich. »Ich habe sehr wohl eine Wahl.«
    Cassie plumpst aufs Bett zurück, macht einen Schmollmund und verschränkt die Arme vor der Brust. »Na bitte. Dann geh doch. Lebe ein richtiges Leben. Pech für mich, dass ich’s verbockt hab.«
    Ich halte ihr das Stück Glas hin. »Schau da durch. Vielleicht kannst du zurück.«
    »So funktioniert das nicht. Es gibt ein paar real existierende physikalische Gesetze, weißt du? Man kann sie
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