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Wintermädchen

Wintermädchen

Titel: Wintermädchen
Autoren: Laurie Halse Anderson
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hier, augenblicklich, kann ich mir in eine Vene stechen. Die sind ganz leicht zu erkennen. Ich könnte in den Schneesturm hinausgehen, mich in den Schnee legen und verbluten. Unterkühlung und Blutverlust wirken, als ob man einschläft, als würde ich mir den Finger an einem Dorn oder an einer Spindel stechen.
    Ich könnte.
    Am Lampenschirm baumelt eine Spinne. Sie schwingt auf mich zu, streift mein Gesicht und landet auf der Ablage an meinem Kopfende. Sie tanzt den Faden an die richtige Stelle und schwingt sich wieder zurück. Wiederundwiederundwieder. Zieht unermüdlich Fäden mit ihren winzigen Händen, ihre Beine durchschneiden das Licht wie schwarze Messer. Ihr Netz wächst Faden um Faden. Sie legt Pfade an, von denen aus sie den nächsten Schritt tun kann. Die senkrechten zuerst, die dann durch die waagerechten miteinander verbunden werden. Immer mehr Spinnenseide, immer mehr Spannung, immer mehr Wege, sie webt eine ganze Welt aus sich heraus.
    Wenn ich eine Spinne wäre, würde ich einen Himmel weben, wo die Sterne in Reih und Glied stehen. Matratzen würden auf ihren Lastern festgebunden, und kein einziger Körper würde je durch eine Windschutzscheibe fliegen. Über einem weinrot dunklen Meer würde der Mond aufgehen und nur jenen Jungfrauen und Musikern Babys bescheren, die lang und inbrünstig gebetet haben. Verirrte Mädchen bräuchten weder Kompass noch Landkarte. Für sie gäbe es Lebkuchenpfade, die in den Wald hinein- und wieder herausführen.
    Und nie würden sie in silbernen, mit weißem Samt ausgekleideten Kisten schlafen, nicht, ehe sie Großmütter wären, knittrig wie Papier und bereit für ihre Reise.
    Die Spinne seufzt und singt leise vor sich hin.
    Ich heiße Lia. Meine Mutter ist Chloe, mein Vater David. Meine Schwester Emma. Und Jennifer.
    Meine Mutter kann ihre Hände in die geöffneten Brustkörbe von Fremden stecken und ihre kaputten Herzen reparieren, aber sie weiß nicht, welche Musik mir gefällt. Mein Vater denkt, ich bin elf. Seine Frau hält, was sie verspricht. Sie hat mir eine Schwester geschenkt, die darauf wartet, dass ich nach Hause komme und mit ihr spiele. Ich heiße Lia.
    Meine Knochen schleppen sich aus dem Bett, über den Boden bis zum Fenster. Ich ziehe an der Schnur zum Öffnen der Vorhänge. Die Sonne klebt am Boden. Ich weiß nicht, wo Osten ist, kann nicht sagen, ob das der Sonnenauf- oder Sonnenuntergang ist.
    Ich setze mich wieder hin. Der Spiegel reflektiert das schummerige Licht im Fenster hinter mir. Und den Schnee. Mich selbst sehe ich nicht. Ich bin nicht dort. Bin auch nicht hier. Ich schließe meine Augen, öffne sie wieder. Kein Unterschied.
    Mein Kopf dreht sich nach einem Geräusch – Luft, die durch Wasser blubbert. Meine Lunge. Ich atme noch, das ist ein gutes Zeichen.
    Möglich, dass ich weiterleben will, wenn ich ein bisschen geschlafen habe.
    062.00
    Ich erwache in Schwärze.
    Die Zeit klebt in Sirup fest, schwarzem Sirup, den man in eine Rührschüssel gegeben hat. Der Spiegel zeigt, dass es draußen dunkel ist. Nacht. Also ging die Sonne unter und nicht auf.
    Ich bin im Motel, Zimme r 115. Monster-Boy ist weg. Ich greife zum Telefonhörer. Kein Freizeichen. Das Motel schläft, ist bis zur nächsten Saison geschlossen.
    Meine Arme kämpfen sich durch die Decken, meine Füße finden den Fußboden. Sie warten gar nicht erst ab, bis ich eine Entscheidung treffe. Sie gehen los. Wir gehen. Die Kälte wirbelt mir um die Knöchel und will mich zu Boden ziehen. Es dauert einen Monat, bis ich meine Jacke finde. Ein Jahr, um mir die Stiefel zu schnüren.
    Das Strickzeug nehmen. Die Handtasche nehmen. Den Schlüssel.
    Mein Herz wabbelt, ein Klumpen aus roter Götterspeise.
    Zur Tür hinaus.
    Es hat aufgehört zu schneien. Hoch oben hängt die Mondsichel, die Sterne reiben sich mit klappernden Zähnen die Hände. Ein Gletscherwind schneidet in die Hohlräume zwischen meinen Rippen und fährt in die winzigen Risse meiner Knochen. Mir bleibt nicht viel Zeit.
    Ich schlurfe zum Büro hinüber. Die Tür zu Zimme r 113 steht offen. Das Licht ist an.
    Nein.
    Das kann nicht sein. Alles ist abgeschlossen. Alles ist zugefroren.
    Nein.
Doch.
    Ich spähe hinein. Cassie sitzt im Schneidersitz auf dem Bett, vor sich eine ausgelegte Patience. Als ich die Schwelle überschreite, wirft sie die Karten in die Luft.
    »Na endlich!«, schreit sie. »Warum dauert bei dir immer alles so lange? Du hast dich wieder verlaufen, stimmt’s?«
    Ihr Zimmer ist warm. Im Fernsehen läuft ein
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